Der armenische HDP-Politiker Garo Paylan hat Strafanzeige gegen den fraktionslosen Parlamentsabgeordneten Ümit Özdağ erstattet. Der 49-Jährige sieht sich einer ernstzunehmenden Bedrohung durch Özdağ ausgesetzt, der im März wegen „Differenzen in der Nationalismus-Frage“ aus der IYI-Partei – einer Abspaltung der rechtsextremen MHP, ausgetreten ist. Die Beschwerde Paylans erfolgte auf Grundlage der Vorwürfe Anstiftung zu Hass, Feindschaft oder Erniedrigung nach Artikel 216 des türkischen Strafgesetzbuches, Anstiftung zu einer Straftat, Beleidigung und Bedrohung.
Hintergrund der Anzeige des HDP-Abgeordneten Garo Paylan gegen den nationalistischen Politiker Ümit Özdağ ist dessen angedrohte „Talat-Pascha-Erfahrung“. Talat Pascha war Innenminister im Osmanischen Reich und stellte die Spitze des Komitees für Einheit und Fortschritt. Er gilt als Hauptverantwortlicher und Architekt des jungtürkischen Genozids an den Armenierinnen und Armeniern, der zwischen 1915 und 1918 mindestens 1,5 Millionen Menschen das Leben kostete. Paylan hatte anlässlich des Völkermordgedenktags am 24. April kritisiert, dass es in der Türkei nach wie vor Schulen und Straßen gibt, die nach Talat Pascha benannt sind. Die derzeitige Situation im Land sei zu vergleichen mit einem Nachkriegsdeutschland, in dem Bildungseinrichtungen und Straßen den Namen von Adolf Hitler tragen würden.
„Daschnaken-ASALA-PKK-Virus“
Daraufhin wurde Paylan von Özdağ im Kurznachrichtendienst Twitter als „unverschämter provokanter Typ“ beschimpft, der „auf den Grund der Hölle abhauen“ sollte. „Talat Paşa hat keine vaterlandsliebenden Armenier vertrieben, aber Menschen wie dich, die von hinten angreifen. Auch du solltest und wirst zu gegebener Zeit eine Talat-Paşa-Erfahrung machen.” Zudem bezeichnete Özdağ den armenischen Politiker als „Überrest der Daschnaken“, „verlängerter Arm der ASALA“ und „PKK-Sympathisanten“. In Paylans Blut fließe ein Virus namens „Daschnaken-ASALA-PKK“, außerdem sei er ein „bösartiger Feind der türkischen Nation“.
Kultur der Straflosigkeit
„Aufrufe zur Gewalt gegen Minderheiten machen den Weg zu Hassverbrechen frei. Diskriminierung und Hassrede sollten nicht ungestraft bleiben“, sagte Paylan am Mittwoch in Ankara. Denn gerade die „Kultur der Straflosigkeit“ in der Türkei erhöhe die Rate der Hasskriminalität gegen ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten. Zudem fördere die „feindselige Haltung“ der Regierung gegenüber anderen Meinungen und unterschiedlichen Existenzen Verbrechen wie diese und verhindere eine effektive Aufklärung. Auf Artikel 216, der nach deutscher Rechtsprechung der Volksverhetzung entspricht und vor Angriffen auf Minderheiten und allgemein vor Diskriminierung schützen soll, werde aber nur zurückgegriffen, um „Kritik an den Herrschenden zu unterdrücken“, so Paylan.
IHD erstattet ebenfalls Anzeige
Am Dienstag hatte bereits die Kommission gegen Rassismus und Diskriminierung des Menschenrechtsvereins IHD Anzeige gegen Özdağ erstattet. Mit der von den Rechtsanwältinnen Eren Keskin und Jiyan Kaya sowie den Aktivistinnen Gülistan Yarkın, Meral Çıldır und Ayşe Günaysu bei der Oberstaatsanwaltschaft von Ankara eingereichten Beschwerde soll Özdağ nicht nur wegen Bedrohung sowie Anstiftung zu Hass, Feindschaft oder Erniedrigung nach Artikel 216 strafrechtlich gerügt werden. Die Beschwerdeführerinnen machen zudem geltend, dass ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot nach Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegt.