Staatsanwalt fordert bis zu 20 Jahre Haft für kurdischen Journalisten

Mit Abdurrahman Gök steht ein weiterer kurdischer Journalist unter absurden Terrorvorwürfen vor Gericht. Dem Reporter, der 2017 in Amed den Mord am Studenten Kemal Kurkut durch einen Polizisten dokumentierte, drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Seit dieser Woche steht der kurdische Journalist Abdurrahman Gök in Amed vor Gericht. Geht es nach der Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakır, soll der 40-Jährige unter dem Vorwurf des Verstoßes gegen die Antiterror-Gesetzgebung verurteilt werden. Genau genommen fordert die Anklagebehörde ein Strafmaß zwischen sieben und zwanzig Jahren Freiheitsstrafe. Dem Fotoreporter, der als Korrespondent für die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) arbeitet, wird Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation und Terrorpropaganda vorgeworfen. Angeblich sei Gök Mitglied im „Pressekomitee“ der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), ein auf Initiative des inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan gebildeter Dachverband, dem auch die Arbeiterpartei Kurdistans angehört. Gök weist die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als „absurd“ zurück. „Hier steht Journalismus vor Gericht“, kommentierte er den Prozess.

Die Anklage gegen Gök geht auf ein Ermittlungsverfahren von Oktober 2018 zurück. Der oberste Staatsanwalt in der kurdischen Widerstandshochburg hatte damals etwa 200 Objekte kurdischer Organisationen, Medieneinrichtungen und Parteiräume durchsuchen und 141 Personen festnehmen lassen. Gegen 25 von ihnen erging später wegen vage formulierten Terrorvorwürfen Haftbefehl. Auch Gök war damals in Gewahrsam genommen worden, kam nach vier Tagen aber wieder auf freien Fuß. Allerdings verhängte das Gericht eine Ausreisesperre gegen ihn.

Fertigstellung der Anklageschrift dauerte zwei Jahre

Es dauerte gut zwei Jahre, bis die Anklageschrift gegen Gök verfasst wurde. Seit letztem Oktober liegt der Eröffnungsbeschluss für das Verfahren vor, das am 5. Schwurgericht verhandelt wird. Die Anschuldigungen gegen den Journalisten basieren auf Aussagen eines sogenannten „anonymen Zeugen“, der vermutlich aus dem staatlich zusammengestellten Kronzeugenpool ist, auf den in allen Prozessen gegen unliebsame Oppositionelle und Medienschaffende zurückgegriffen wird, seiner kritischen Berichterstattung, Einträgen in Onlinediensten und Inhalten aus Telefongesprächen. Abdurrahman Gök ist auch international für seine journalistische Arbeit bekannt, da die Öffentlichkeit nur dank seines Einsatzes erfuhr, dass es sich beim Tod des jungen Kunststudenten Kemal Kurkut, der im März 2017 am Rande der Newroz-Feierlichkeiten in Amed von einem Polizisten erschossen worden war, in Wahrheit um vorsätzlichen Mord handelte. Gök hatte acht Mal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und dokumentiert, dass die offizielle Version, wonach Kurkut ein „Selbstmordattentäter“ gewesen sei, von der Polizei nur erfunden wurde. Auf dem Korridor vor dem Gerichtssaal hatten sich gestern zahlreiche Kolleg*innen versammelt, um ihre Solidarität mit dem Reporter zu zeigen, darunter die Sprecherin der Journalistinnenplattform Mesopotamiens Ayşe Güney, die Ko-Vorsitzende des Journalistenvereins Dicle-Firat (DFG) Dicle Müftüoğlu, und der MA-Redakteur Kadri Esen. Als Prozessbeobachter*innen wurden nur vier Personen zugelassen, darunter ein Vertreter der Journalistengewerkschaft TGS. Dennoch waren die anwesenden Polizisten in der Mehrzahl.

Kemal Kurkut war 23, als er erschossen wurde. Sein Mörder wurde inzwischen freigesprochen

Vorwürfe: Fotos aus Kobanê und Şengal

Unter anderem wird Gök unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung ein Artikel über die Ausplünderung der kurdischen Musikkultur vorgeworfen. Konkret geht es um einen Plagiatsvorwurf gegen den rechtsextremen türkischen Sänger Mustafa Yıldızdoğan, der für sein nationalistisches Lied „Ich sterbe für dich, meine Türkei“ die Melodie eines kurdischen Liedes kopierte. In die Anklageschrift sind auch neben einer Rede Göks zum Tag des kurdischen Journalismus (22. April) und etlichen Twitter-Beiträgen diverse aus illegal abgehörten Telefonaten erstellte Protokolle miteingeflossen. Diese geben unter anderem die Antwort des Journalisten auf die Frage eines Kollegen wieder, wer der aktuelle Vorsitzende der kurdischen Bewegung TEV-DEM in Rojava sei. Mit Fotos von Mitgliedern der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ, die Gök während dem Kampf um Kobanê im Jahr 2014 schoss – als beide Verbände in der Türkei noch nicht zur „Terrororganisation“ erklärt wurden – und solche von bewaffneten Menschen in Şengal, welche die vom selbsternannten IS überfallene und ins Gebirge geflohene ezidische Bevölkerung verteidigten, meint die Generalstaatsanwaltschaft ebenfalls beweisen zu können, dass der Journalist Mitglied im „KCK-Pressekomitee“ sei.

Richter: „Wollen Sie etwa behaupten…“

Dass der Prozess ganz offensichtlich politisch motiviert ist und grob unfair verlaufen wird, zeigte beim gestrigen Auftakt auch die Fragestellung des Richters, der sich noch nicht einmal darum bemühte, den beim Publikum entstandenen Eindruck von Voreingenommenheit zu zerstreuen. So unterbrach er völlig empört Göks Verteidigungsrede, in der dieser die Anschuldigungen des Kronzeugen mit der Kennung „Geduld“ (tr. Sabır) als falsche Behauptungen bezeichnete, und fragte: „Wollen Sie damit etwa behaupten, dass Sie ihre Berichte nicht im Einklang mit Öcalans Ansichten verfassen?“ Gök entgegnete, in seiner 17-jährigen Laufbahn als Medienschaffender, darunter in den Krisengebieten Syrien, Irak und Iran, stets entsprechend den universellen Standards eines guten Journalismus gearbeitet zu haben. Niemand sei an ihn je wegen Parteilichkeit oder einer unwahren Tatsachenbehauptung herangetreten oder habe einen Berichtigungsanspruch geltend machen wollen. „Zwar wurde in den letzten Jahren häufig gegen mich unter Terrorismusvorwürfen ermittelt; die Verfahren wurden aber immer eingestellt und führten nicht zu Verurteilungen“, erklärte Gök.

Verteidiger empört über Herabwürdigung kurdischer Zeitung

Rechtsanwalt Resul Tamur zeigte sich ebenfalls empört, allerdings über die Vorwürfe gegen seinen Mandanten, sowie aus dem Kurdischen „fehlerhaft“ übersetzte Gesprächsprotokolle und weitere Einzelheiten in der Anklageschrift. So spreche die Staatsanwaltschaft darin der ersten kurdischsprachigen Zeitung „Kurdistan“, die 1898 in Ägypten herausgegeben wurde, ihren Status als Zeitung ab und verschmähe sie als „sogenanntes Blatt“. Diese Herabwürdigung sei „unhöflich und verletzend“, ziehe sich aber ohnehin wie ein roter Faden durch die gesamte Anklageschrift. „Die Namen von Gesprächspartnern meines Mandanten sind von der Polizei als ‚unidentifizierbare Personen‘ angegeben worden, dabei sind sie der Behörde bestens bekannt, da es sich ebenfalls um Journalisten handelt.“ So solle halt der Eindruck entstehen, es handele sich um Kontakte aus kriminalisierten Strukturen. Dies sei nur einer von vielen Hinweisen, die auf die „böswillige Absicht“ der Strafverfolgungsbehörden deuten, die Tatsachen verzerrten. „Hier sitzt eindeutig der Journalismus auf der Anklagebank“, sagte Tamur und forderte Freispruch. Das Gericht ordnete die Aufhebung der Ausreisesperre gegen Gök an und gab der Verteidigung 14 Tage Zeit, Fragen an den Kronzeugen einzureichen. Das Verfahren wird am 3. Juni fortgesetzt.

Über Journalisten schwebt ein Damoklesschwert

Was Abdurrahman Gök erleben muss, ist weder ungewöhnlich noch ein Einzelfall. Das Verfahren gegen den in Êlih (Batman) geborenen Kurden passt in das Muster willkürlicher Strafverfolgungen gegen kritische Journalist*innen und reflektiert die nicht vorhandene Rechtstaatlichkeit in der Türkei. Wer die Politik des AKP/MHP-Regimes hinterfragt oder den Staat in Bedrängnis bringt, wird zum potenziellen Ziel der Behörden. „Über Medienschaffenden schwebt ein Damoklesschwert“, beschrieb der Journalistenverein Dicle-Firat (DFG) die derzeitige Lage für Medienschaffende in seiner jüngsten Bilanz zu Repressionen und Rechtsverletzungen im Bereich der Pressefreiheit in der Türkei. Nach Angaben der Organisation befinden sich derzeit 88 Journalistinnen und Journalisten hinter Gittern (Stand 6. Februar 2021). „Der Absicht der Regierung, die Medien zu hundert Prozent zu kontrollieren, steht jedoch unser entschlossener Wille gegenüber, die Pressefreiheit zu verteidigen“, so DFG.