Kronzeugenpool für politische Verfahren in der Türkei

Rechtsanwalt Serhat Eren vom Parteirat der HDP weist auf den in der Türkei zusammengestellten Kronzeugenpool hin, auf den in allen Prozessen gegen kurdische Politiker*innen zurückgegriffen wird.

In der Türkei werden ständig Einrichtungen der kurdischen politischen Bewegung und Privatwohnungen von Sicherheitskräften gestürmt. Es vergeht kein Tag ohne Festnahmeterror, die Begründungen sind oft absurd. Die Betroffenen werden ohne Beweise angeklagt und willkürlich verurteilt. Rechtsanwalt Serhat Eren ist Mitglied im Parteirat der HDP und hat sich gegenüber ANF zu dem politischen Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Bewegung geäußert.

Ein Blick in die Geschichte zeige, dass die unterschiedlichen Regierungsparteien die Justiz schon immer als Knüppel genutzt haben, um die kurdische Politik lahmzulegen, sagt der Rechtsanwalt. Die Justiz sei das Instrument, mit der die Gesellschaft geformt und die Macht der Regierung institutionalisiert werde. Das sei auch hinsichtlich der HDP nicht anders. Insbesondere die Zeit nach den Wahlen vom 7. Juni 2015 zeigt für Serhat Eren die „Kurden-Praxis der Justiz“ sehr deutlich.

Zu großer Wahlerfolg der HDP

Die Justiz habe noch nie so offenkundig wie jetzt die Gesetzgebung und internationale Abkommen ignoriert, hält Rechtsanwalt Eren fest: „Damit unterscheidet sie sich natürlich nicht von der Regierungspolitik. Am 5. Juni 2015 ist ein Anschlag auf eine Wahlkundgebung der HDP in Amed verübt worden. Der Anschlag sollte verhindern, dass die HDP bei den Parlamentswahlen antritt. Aus den Wahlen am 7. Juni ging die HDP erfolgreich mit achtzig Abgeordneten hervor. Dieser Erfolg war erstmalig in der Geschichte der Türkei. Dass achtzig Abgeordnete ins Parlament einziehen, war von den anderen Akteuren in der Politik der Türkei nicht erwartet worden. Dieser Erfolg war ihnen zu groß. Die Tatsache, dass die AKP nicht mehr alleine die Regierung stellen konnte, war ein Wendepunkt. Und so kam es nach den Wahlen am 20. Juli zum Anschlag in Suruç, am 22. Juli zum Mord an zwei Polizisten in Ceylanpınar und danach fingen die Luftangriffe an... All das war der Reflex des Staates, der auf die auf demokratischer Ebene stattfindende Stärkung der HDP erfolgt ist.“

Jurastudenten im ersten Semester verblüfft

Ein rein politische Blockade habe der AKP-Regierung nicht ausgereicht, führt Eren aus: „Die Regierung wollte die Blockade auch über die Justiz durchsetzen. In der Hochzeit der Gülen-Gemeinde hat die von ihr dominierte Justiz juristische Finten genutzt, um Anklage zu erheben. Diese Leute kannten das Rechtssystem genau und wussten daher auch um seine Finten. Die Justiz der AKP-Zeit kennt sich leider weniger gut im Rechtssystem aus, daher wird es in den Anklagen komplett ignoriert. Diese Phase dauert immer noch an. Alle Akten in Verfahren gegen kurdische Politikerinnen und Politiker sind von einer Qualität, die selbst Jurastudenten im ersten Semester verblüfft. Es gibt keine Gesetzgebung und keine Justiz darin. Sie entsprechen in keiner Weise den Verpflichtungen, die sich aus internationalen Abkommen ergeben. Die kurdische Politik wird politisch blockiert und soll gleichzeitig mit dem Knüppel der Justiz in einen Zustand völliger Einflusslosigkeit versetzt werden.“

Pool anonym gehaltener Zeugen eingerichtet

Weiter erklärt der Rechtsanwalt: „Es ist ein Pool mit geheimen Zeugen eingerichtet worden. Für jede Anklage wird ein passender Zeuge gefunden, der gegen die gewünschte Aussage freigelassen wird. Das findet sich in vielen Akten. Wir legen dagegen Rechtsmittel ein, aber gleichzeitig ist es aus meiner Sicht auch gegenwärtig nicht richtig, angesichts der Regierungspolitik von den Gerichten zu erwarten, dass sie unabhängige Urteile fällen, die dem Recht und internationalen Standards entsprechen. Der Druck ist so groß, dass es für Richter und Staatsanwälte sehr schwierig geworden ist, unabhängig zu agieren.“

In den meisten Fällen wird die Identität der Kronzeugen geheim gehalten, in den Gerichtsakten werden sie oftmals nur mit einer Nummer benannt. Ein bekannter Fall ist die Kronzeugin Hicran Berna Ayverdi, deren Aussagen in unzähligen Verfahren gegen kurdische Aktivist*innen und Politiker*innen als Beweismittel herangezogen werden, so auch im Prozess gegen den letzten Oberbürgermeister von Amed, Adnan Selçuk Mızraklı.  

Das Unrecht muss dokumentiert werden

Rechtsanwalt Eren sagt, dass die Fälle der verurteilten HDP-Politiker*innen regelmäßig vor das türkische Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gebracht werden. „In fünf oder zehn Jahren wird dann vielleicht eine Rechtsverletzung festgestellt, aber damit wird das heute stattfindende Unrecht nicht aufgehoben. Natürlich muss das heutige Geschehen trotzdem dokumentiert werden, um sich auf die Zeit vorzubereiten, in der eines Tages eine Abrechnung stattfinden wird. Die faschistischen Bedingungen werden nicht bis in alle Ewigkeit andauern. Dieses Land wird eine Zeit erleben, in der alles Unrecht aus der Vergangenheit auf den Tisch gelegt wird. Dafür müssen wir als HDP und auch zivilgesellschaftliche Organisationen Vorbereitungen treffen. Die Verletzung des Rechtes auf Leben und die Angriffe auf das aktive und passive Wahlrecht müssen angezeigt und die Prozesse müssen verfolgt werden. Zu dem Unrecht darf nicht geschwiegen werden, es muss mit demokratischen Methoden dagegen protestiert werden. Für die Zukunft ist es wichtig, dass alle Rechtsverletzungen und die juristischen Prozesse dokumentiert werden“, so Rechtsanwalt Serhat Eren vom Parteirat der HDP.