47. Urteil im Nisêbîn-Prozess gesprochen

Im Prozess gegen Aktivisten, die die kurdische Stadt Nisêbîn nach der Deklaration der Selbstverwaltung im Jahr 2015 nicht verlassen haben, ist das mittlerweile 47. Urteil gesprochen worden: erschwerte lebenslange Haft und weitere 26,5 Jahre.

Bereits seit April 2018 wird in der nordkurdischen Provinz Mêrdîn (türk. Mardin) gegen 53 Aktivist*innen verhandelt, die die Stadt Nisêbîn (Nusaybin) nach der Deklaration der Selbstverwaltung im Jahr 2015 nicht verlassen haben und seit dem 26. Mai 2016 in Untersuchungshaft sitzen. Der Vorwurf lautet in allen Fällen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation”, „Verletzung der territorialen Integrität der Türkei” und „Vorsätzlicher Mord an Polizisten“. Viele sind bereits aufgrund von fragwürdigen Beschuldigungen einer Kronzeugin und unter Folter erpressten Aussagen verurteilt worden. Am Freitag wurde am 4. Schwurgerichtshof in Mêrdîn das 47. Urteil gesprochen: erschwerte lebenslange Haft plus weitere 26,5 Jahre für Abdulkadir Baybars. Aussichten auf eine bedingte Entlassung für ihn und andere Betroffene aus dem Verfahren gibt es nach gültiger Rechtsprechung nicht: Personen, die zu lebenslanger Freiheitsstrafe mit verschärftem Vollzug wegen Straftaten verurteilt wurden, die sie nach Auffassung des Gerichts innerhalb einer Organisation gegen die „Sicherheit des Staates“ begangen haben, verbleiben bis zum physischen Tod in Haft.

Baybars: Schaffung einer Gegen-Hegemonie war unser gutes Recht

Mit dem Urteil hat Abdulkadir Baybars gerechnet. Zu seiner Verteidigung sagte der Aktivist, der über das Videokonferenzsystem SEGBIS aus einem Gefängnis im Westen der Türkei in die Verhandlung eingebunden wurde, dass er das Verfahren von Anfang an als einen machtpolitischen Schachzug der Regierung gegen die Selbstverwaltung verstanden habe. „Das Prinzip uns selbst zu verwalten und eine Gegen-Hegemonie zu schaffen, war unser gutes Recht. Wir wollten unabhängig von den Institutionen des türkischen Staates sein. Dafür wurde Widerstand geleistet.“ Die Vorstellung von einer Selbstverwaltung war auch im Dolmabahçe-Abkommen, einem Zehn-Punkte-Plan, der den Rahmen für demokratische Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der PKK darlegte, enthalten. Das Abkommen wurde im Frühling 2015 von Recep Tayyip Erdoğan einseitig umgeworfen. Anschließend wurde Abdullah Öcalan vollständig von der Öffentlichkeit isoliert und die Wahlen vom 7. Juni 2015, aus denen die Demokratische Partei der Völker (HDP) mit dreizehn Prozent erfolgreich hervorgegangen war, wurden annulliert. In der Folge wurde der schmutzige Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung wieder ausgeweitet. Am 7. August 2015 drangen schließlich türkische Sicherheitskräfte in Silopiya (Provinz Şirnex/Şırnak) unter dem Deckmantel „Operation“ in die Viertel Zap und Barbaros ein. Im Grunde handelte es sich dabei um einen Kleinkrieg, den drei Zivilisten nicht überlebten. 15 weitere Menschen gerieten ebenfalls ins Visier türkischer Sicherheitskräfte. Sie überlebten die Verletzungen, die ihnen Scharfschützen zugefügt hatten, nur knapp.

Die Zeichnung der Militärbelagerung von Nisêbîn brachte der Künstlerin Zehra Doğan mehrere Jahre Haft ein.

Bankrott der Vorstellung, der Staat sei durch Dialog zu demokratisieren

Als Reaktion darauf und durch den endgültigen Bankrott der Vorstellung, der türkische Staat sei mittels Verhandlungen zu demokratisieren, wurde in einer Reihe kurdischer Städte und Gemeinden als demokratischer Gegenentwurf zu dem von der AKP vorgeschlagenen totalitären „Präsidialsystem“ die Selbstverwaltung proklamiert. Auf die Antithese zur offiziellen Ideologie des türkischen Staates und seinem strikt zentralistischen und bürokratischen Verständnis reagierte Ankara mit voller Härte. Der über mehrere Monate andauernden Militärbelagerung in Städten wie Sûr, Şirnex, Cizîr und Nisêbîn fielen Hunderte Menschen zum Opfer, die genaue Zahl ist noch immer nicht bekannt. Nach Angaben der HDP kamen allein in Cizîr mindestens 280 Menschen ums Leben, viele von ihnen in den berüchtigten Todeskellern. In 262 Fällen konnte die Identität der Opfer festgestellt werden, weitere 18 Menschen sind noch immer auf dem Friedhof der Namenlosen begraben. In Nisêbîn wurden den Recherchen von Menschenrechtsorganisationen zufolge mindestens 350 Menschen getötet. Die Städte, in denen sie lebten, existieren teilweise nicht mehr und sind vom Staat regelrecht dem Erdboden gleichgemacht worden. So wurden beispielsweise in Nisêbîn sechs der fünfzehn Stadtteile im Zentrum vollständig zerstört und rund 6.000 Gebäude abgerissen oder schwer beschädigt. Mindestens 30.000 Menschen, andere Quellen sprechen sogar von 50.000, verloren ihr zu Hause. Ununterbrochen wurde geschossen und aus der Luft bombardiert.

Kronzeugin im Nisêbîn-Prozess: Hicran Berna Ayverdi

Als „Kronzeugin“ in dem Prozess um die Aburteilung des Widerstands von Nisêbîn tritt Hicran Berna Ayverdi auf, die ebenfalls aus der Stadt evakuiert worden war und inzwischen ein Leben in Freiheit genießt. Sie wurde symbolisch zu acht Jahren Haft verurteilt, danach wurde die Strafe halbiert. Aufgrund ihrer fragwürdigen Aussagen landeten auch in anderen Verfahren kurdische Politiker*innen und Aktivist*innen im Gefängnis. Unter ihnen befindet sich neben der ehemaligen Bezirksbürgermeisterin von Payas (Kayapinar) Keziban Yılmaz auch der im vergangenen August abgesetzte und zwei Monate später verhaftete Oberbürgermeister von Amed (Diyarbakir), Adnan Selçuk Mızraklı. Vor vier Monaten wurde er wegen sogenannten Terrorvorwürfen zu einer Haftstrafe von knapp neuneinhalb Jahren verurteilt. Die vermeintliche Kronzeugin ist seit Oktober wieder auf freiem Fuß.

Bisher Verurteilte und das Strafmaß

In Mêrdîn läuft auch ein abgetrenntes Verfahren gegen 17 Jugendliche, die ebenfalls aus dem belagerten Nisêbîn evakuiert und inhaftiert worden waren. Sechs von ihnen (Şükrü Aybek, Heja Alğan, Emre Topçuoğlu, Baran Eman, Çeçan Kilkaya und Dilan Aslan) wurden bereits zu fast 36 Jahren Haft verurteilt, drei weitere (Hüseyin Bağ, Zehra Kaya, Fatma Aslan und Murat Gazioğlu) wurden mit Haftstrafen zwischen elf und 21 Jahren belegt. Nurcan Aslan soll für 25 Jahre und acht Monate ins Gefängnis. Das Strafmaß für die zum Zeitpunkt ihrer Festnahme über 18-Jährigen lautet:

Nurşan Demir und Yasemin Erkol: zehn Jahre

Ferhat Doğan: 18 Jahre

Enes Taşkın: lebenslange Haft plus 18 Jahre

Melis Teksan: erschwerte lebenslange Haft

Ercan Dolaşır: erschwerte lebenslange Haft plus zehn Jahre

İlyas Doğan, Ömer Karataş, Osman Bozkurt, Hamit Acur, Süleyman Göksel Yerdut, İbrahim Toktaş und Akar İkbal: erschwerte lebenslange Haft plus 15 Jahre

Recep Yel und Mehmet Ziriğ: erschwerte lebenslange Haft plus 17 Jahre

Sadık Tan, İsmail Yılmaz, Bayram Sevgin, Fırat Dari, Mazlum Yaşa, Nubahar Özdemir und Hatip Oyman: erschwerte lebenslange Haft plus 18 Jahre

Baver Başar: erschwerte lebenslange Haft plus 19 Jahre

Erkan Benli: erschwerte lebenslange Haft plus 20 Jahre und drei Monate

Özgür Sevim: erschwerte lebenslange Haft plus 25 Jahre

Oktay Gül: erschwerte lebenslange Haft plus 25 Jahre und sechs Monate

Dilber Tanrıkulu: erschwerte lebenslange Haft plus 26 Jahre

Nurullah Akyüz: erschwerte lebenslange Haft plus 26 Jahre und sechs Monate

Tufan İlbaş: erschwerte lebenslange Haft plus 27 Jahre und sechs Monate

Fırat Çiftçi: erschwerte lebenslange Haft plus 29 Jahre

Ömer Güner und Mehmet Faruk Engin: erschwerte lebenslange Haft plus 31 Jahre

İbrahim Halil Ildız: erschwerte lebenslange Haft plus 53 Jahre

Ramazan Eroğlu: zwei Mal erschwerte lebenslange Haft plus drei Jahre

Resul Ergün: drei Mal erschwerte lebenslange Haft plus 27 Jahre

Anklage gegen zwei Betroffene wegen Todesfall fallen gelassen

Gegen Medya Çınar und Siraç Yüksek wurde die Anklage im Prozess gegen die Evakuierten aus Nisêbîn fallen gelassen. Beide hatten sich im letzten Jahr aus Protest gegen die Isolation von Abdullah Öcalan im Gefängnis das Leben genommen.