Jahresbilanz: Keine Pressefreiheit in der Türkei

Der Journalistenverein Dicle-Firat hat seine Bilanz zu Repressionen und Rechtsverletzungen im Bereich der Pressefreiheit in der Türkei für das Jahr 2020 veröffentlicht. Die Zeiten sind insbesondere für kurdische Medienschaffende gefährlich.

In der Türkei sind im vergangenen Jahr 24 Journalistinnen und Journalisten verhaftet worden. Das gab der Journalistenverein Dicle-Firat (Dicle Fırat Gazeteciler Derneği, DFG) am Montag bei der Vorstellung einer Jahresbilanz zu Repressionen und Rechtsverletzungen im Bereich der Pressefreiheit in Amed (tr. Diyarbakir) bekannt. Im gleichen Zeitraum sind 79 Medienschaffende festgenommen und neunzehn weitere Opfer eines gewalttägigen Angriffs geworden. Insgesamt 1.960 Meldungen sind auf Betreiben der staatlichen Informationstechnologiebehörde (BTK) per Gerichtsbeschluss gesperrt worden.

Die Journalistin Dicle Müftüoğlu, die zugleich Ko-Vorsitzende des DFG ist, bezeichnete das Jahr 2020 als ein ganzes „Knäuel an Problemen“, das kaum zu entwirren sei. „Festnahmen, Verhaftungen, Ermittlungen, Anklagen, Haftstrafen, Sperrungen von einzelnen Meldungen oder ganzen Nachrichtenportalen: Das ist die Reaktion der Regierung auf Journalistinnen und Journalisten, die nicht in den Pool der staatlichen Medienlandschaft einsteigen und ins Visier der Repression geraten, weil sie nach den Prinzipien des korrekten und mutigen Journalisten handeln und der Stimme der Ausgegrenzten zu Gehör verschaffen“, so Müftüoğlu.

Aber noch schlimmer sei die Situation für kurdische Medien und ihre Angehörigen. Denn wie in allen anderen Teilen des gesellschaftlichen Lebens würden Kurdinnen und Kurden in der Türkei auch im Bereich der Presse zur direkten Zielscheibe beispielloser Repressalien, sagte Müftüoğlu. „Für kurdische Medienschaffende gibt es faktisch keinen Raum für Meinungsfreiheit.” Als letztes Beispiel seien die Fälle von Adnan Bilen, Cemil Uğur, Şehriban Abi, Nazan Sala und Dindar Karataş zu nennen, die unter dem Vorwurf „staatsfeindlicher Berichterstattung über gesellschaftliche Ereignisse“ in Untersuchungshaft sitzen.

Dicle Müftüoğlu (m.) bei der Vorstellung der DFG-Bilanz

Müftüoğlu erinnerte daran, dass die Türkei zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalist*innen weltweit gehört und 2020 auf der Rangliste der Pressefreiheit Platz 154 von 180 belegte. „Medienschaffende in diesem Land gelten jedoch auch außerhalb von Gefängnismauern hinter Gittern. Denn diejenigen, die nicht in Zellen einsitzen, verbringen den größten Teil ihrer Zeit auf Polizeirevieren oder in den Korridoren der Gerichte, um sich für ihre Arbeit zu rechtfertigen“, so die Journalistin.

Das umstrittene Gesetz Nr. 5651 für Internetüberwachung und Netzsperren sei in den meisten Fällen zur Blockierung regierungskritischer Berichterstattung zum Einsatz gekommen, führte Müftüoğlu weiter aus. Das Gesetz trat 2007 mit dem Ziel in Kraft, die Persönlichkeitsrechte zu schützen – so die türkische Regierung. Es ermöglicht den Behörden eine weitgehende Zensur des Internets: Webseiten können mit und ohne gerichtliche Anordnung gesperrt werden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied, dass das Gesetz 5651 den Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Inzwischen hat die Türkei das Gesetz sogar verschärft.

Jahresbilanz der Rechtsverletzungen gegen Journalistinnen und Journalisten

Festnahmen: 79

Verhaftungen: 24

Übergriffe: 19

Misshandlung, Bedrohung, Spitzelanwerbeversuche: 17

Hinderung an Berichterstattung: 12

Ermittlungsverfahren: 54

Anklagen: 53

Haftstrafen: 150 Jahre und 15 Tage für insgesamt 43 Personen

Geldstrafen: 56.310 TL (umgerechnet etwa 6200 Euro)

Andauernde Gerichtsverfahren oder Ermittlungen: 231 Akten / 539 Betroffene

Geldstrafen gegen Zeitungen: 8

Strafbelegung durch türkische Rundfunkbehörde RTÜK: 43

Gesperrte Meldungen: 1960

Gesperrte Internetseiten: 145

Entlassene Journalisten: 6

Zahl der aktuell inhaftierten Medienschaffenden: 91 (Stand 4. Januar 2021)