Nach einer gravierenden Erdbebenserie, die von zwei Beben der Stufe 7,6 und 7,8 eingeleitet wurde, standen die türkischen Behörden vor zwei Jahren massiv in der Kritik. Sie sollen insbesondere Hilfs- und Bergungsarbeiten für die am schlimmsten betroffenen – kurdischen – Regionen unterlassen und behindert haben. Halil Yakut stammt selbst aus Hatay, was schwer von den Beben betroffen war. Er ist der Regisseur des Dokumentarfilms „Concrete Is Yours, Homeland Is Ours“ (Beton Sizin, Vatan Bizim), der eine Vielzahl von Interviews mit Überlebenden aus Hatay enthält.
Der offizielle X-Account dieses Films ist am Tag der YouTube-Premiere desselben, am 17. Mai, auf Entscheidung des zehnten Strafgerichts in Ankara gesperrt worden.
„Die Regierung hat Angst vor der Wahrheit“
Der Regisseur des Dokumentarfilms, Halil Yakut, erklärte gegenüber ANF, dass die Veröffentlichung des Trailers auf dem X-Konto als Grund für die Sperrung angegeben worden sei. „Concrete Is Yours, Homeland Is Ours“ feierte am Samstag seine Premiere auf YouTube als Yakut per E-Mail von der Plattform X über die Sperrung informiert worden sei. Als Grund habe das türkische Gericht dem Unternehmen die in Werbebeiträgen geteilten Trailer des Dokumentarfilms genannt.
Yakut gibt sich damit nicht zufrieden und kündigte an, Widerspruch einzulegen. Er meint, die Regierung habe Angst vor der Wahrheit: „Weil die Wahrheit die Menschen organisiert, ihr Bewusstsein schärft und sie inspiriert, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Deshalb versuchen sie, die Stimmen der Menschen und die Macht des Volkes zu unterdrücken. Aber egal, was sie tun, sie werden uns nicht daran hindern können, die Stimme des Volkes von Hatay überallhin zu tragen.“
„Die Stimmen derer, die ihre Angehörigen verloren“
Der Dokumentarfilm basiert laut dem Regisseur vollständig auf den Aussagen und Berichten der Menschen von vor Ort. Die Schließung des X-Kontos spiegelt für Yakut die Intoleranz der Behörden gegenüber diesen Stimmen wider: „In dem Dokumentarfilm sagen die Menschen ganz klar, dass sie von der Regierung dem Tod überlassen wurden. Sie sagen: ‚Wir wurden hier zum Sterben zurückgelassen, massakriert. Der Staat ist nie nach Hatay gekommen.‘ Sie erzählen, wie Revolutionär:innen, Sozialist:innen, Menschenrechtsanwält:innen, Kunstschaffende und Beschäftigte des Gesundheitswesens kamen, um sie zu unterstützen, während der Staat diejenigen angriff, die sich solidarisch zeigten.
Ein Überlebender des Erdbebens, den ich interviewte, sagte: ‚Um Gottes willen, Bruder, glaubst du wirklich, dass irgendetwas besser wird, solange Tayyip Erdoğan an der Macht ist?‘ Ein anderer sagte: ‚Wir können den Sozialismus aufbauen.‘ Wiederum jemand anderes sagte: ‚Durch die Solidarität des Volkes können wir alles überwinden.‘ Sie [die türkische Regierung, Anm. d. Red.] hatten Angst davor, dass diese Stimme gehört werden könnte. Sie waren beunruhigt über die Stimmen derer, die ihre Angehörigen unter den Trümmern verloren hatten.“
Repressionen schon während Dreh und Schnitt
Yakut betonte, dass die Polizei zuvor versucht hatte, die Veröffentlichung des Dokumentarfilms zu verhindern, indem sie wiederholt Filmmaterial während der Dreharbeiten beschlagnahmte. Die willkürliche Schließung des X-Accounts, auf dem der Dokumentarfilm beworben wurde, zeigt, dass die Regierung nicht einmal die Stimme der Menschen von Hatay tolerieren kann, die sie unter den Trümmern sterben ließ.
Halil Yakut ist selbst ein Überlebender aus Hatay, die Häuser seiner Eltern und seiner Schwester seien bei den Erdbeben vom 6. Februar zerstört worden. Auch Mitglieder seiner eigenen Familie hat der Filmemacher für sein Projekt interviewt: „Ich stamme aus Hatay, und wir wollten die Menschen darüber sprechen lassen, was während des Erdbebens wirklich passiert ist. Ich habe eine Reihe von Interviews geführt, darunter auch eines mit meiner eigenen Mutter.
Bei Razzien beschlagnahmte die Polizei mein Filmmaterial, und ich wurde unter dem Vorwand verhaftet, mich an Solidaritätsaktionen im Erdbebengebiet zu beteiligen. Im Hochsicherheitsgefängnis Typ-K, in das ich gesperrt wurde, trat ich in einen Hungerstreik, um gegen die Isolation und die unmenschlichen Bedingungen zu protestieren. Aber trotz aller Hindernisse habe ich den Dokumentarfilm nach meiner Entlassung fertiggestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.“
Die Erdbeben im Februar 2023
Die Erdbebenregion an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien erlebte am 6. Februar 2023 zwei Beben der Stärke 7,8 und 7,6 mit Epizentrum Gurgum (Maraş), auf die in den folgenden Tagen und Wochen mehr als 9.100 Nachbeben folgten. Tausende Menschen starben. In der Türkei waren über 20 Millionen, in Syrien rund neun Millionen Menschen von den Auswirkungen der Erdbebenserie betroffen. In elf türkischen Provinzen lagen ganze Städte in Trümmern. Die türkische Regierung stand seinerzeit auch international in der Kritik, empfangene Erdbebenhilfen nicht zum Schutze der Bevölkerung eingesetzt zu haben. Zudem häuften sich von vor Ort Berichte nicht ausschließlich über das Ausbleiben von Hilfs- und Bergungsarbeiten, sondern sogar über vehemente Blockade Ehrenamtlicher.