Ein Jahr nach dem Erdbeben: Kein Vergeben – Kein Vergessen!

Der Jahrestag des verheerenden Erdbebens in Nordkurdistan, Rojava, Syrien und der Türkei war schon in den ersten Stunden von der Wut auf die AKP/MHP-Regierung gezeichnet.

Genau vor einem Jahr, am 6. Februar 2023 um 4.17 Uhr, begann die katastrophale Erdbebenserie im türkisch-syrischen Grenzgebiet mit Epizentrum in der nordkurdischen Provinz Gurgum (Maraş). Nach offiziellen Angaben kamen fast 60.000 Menschen ums Leben. Während das Erdbeben eine Naturkatastrophe war, ist die Höhe der Todesopfer politisch verursacht. Durch fehlende Kontrollen beim Bau, den korrupten Schulterschluss zwischen dem türkischen Regime und Baumafia und die verspäteten und unzureichenden Rettungsarbeiten starben unzählige Menschen unter den Trümmern. Hilfe aus der Zivilgesellschaft wurde durch die Regierung blockiert. Viele haben bis heute nur vollkommen unzureichend Hilfe erhalten. So wurde das Gedenken in der vergangenen Nacht in Hatay, Gurgum, Semsûr (Adıyaman), Meletî (Malatya), Kilis, Osmaniye, Adana, Dîlok (Antep), Amed (Diyarbakır) und Riha (Urfa) auch zu einem Zeichen des Protests.

Iskenderun: Tausende gedenken der Toten

In Iskenderun in der schwer von dem Beben betroffenen Provinz Hatay versammelten sich Tausende Menschen, um der Toten zu gedenken. Dem Aufruf der Februar-Initiative folgend, versammelten sich die Menschen vor dem Zelt der Erdbebenhelfer:innen im Stadtteil Mustafa Kemal. Sie zogen schweigend mit Fackeln zu einem Gebäude, das bei dem Erdbeben eingestürzt war. Auch Vertreter:innen von politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen schlossen sich dem Marsch an. Die Teilnehmenden zündeten Kerzen an und hielten um 04.17 Uhr eine Schweigeminute ab.

Riha: Keine Versöhnung, kein Vergessen

Die Plattform für Arbeit und Demokratie in Riha gedachte der Opfer des Erdbebens vor einem der eingestürzten Gebäude im Bezirk Haliliye. Bei der Gedenkfeier wurden an der Stelle, an der das Gebäude eingestürzt war, Nelken niedergelegt und Kerzen entzündet. Bulut Ezer, Präsident der Ärztekammer von Riha, sagte: „Die Verantwortlichen hätten ans Licht gebracht werden müssen und jemand hätte für all das zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Aber leider hat niemand die Verantwortung dafür übernommen. Sie redeten immer nur von ‚Versöhnung‘, sie sagten den Menschen ‚vergebt uns'. Aber wir werden niemals vergeben, wir werden uns niemals versöhnen.“

Gedenken am Epizentrum in Bazarcik

Auch am Epizentrum des Bebens in Bazarcix in der Provinz Gurgum versammelten sich Menschen mit Fackeln zu einer Demonstration. Anschließend wurden Kerzen angezündet und an den zerstörten Gebäuden Nelken abgelegt.

Semsûr: „Der Staat hat uns mit dem Tod allein gelassen“

In Semsûr folgten viele Menschen dem Aufruf der Plattform für Arbeit und Demokratie und versammelten sich hinter einem Transparent mit der Aufschrift „Wir trauern, wir werden nicht vergessen“. Die Teilnehmer:innen forderten die Verurteilung der Verantwortlichen und warfen dem Staat vor, die Menschen zum Sterben zurückgelassen zu haben: „Als wir noch Stimmen hörten, war der Staat nicht da, als die Stimmen abbrachen, kam der Staat.“ Auf der Abschlusskundgebung erklärte die Ko-Generalvorsitzende des Gewerkschaftsverbands KESK, Ayfer Koçak: „Wir werden unsere Solidarität weiter ausbauen, unseren Schmerz teilen und unsere Wunden gemeinsam versorgen.“ Die Menschen legten am Uhrenturm Blumen nieder. Als der Gouverneur Osman Varol und der ehemalige Minister Adil Karaismailoğlu am Gedenken teilnehmen wollten, kam es zu Protesten.

Amed: „Die Verantwortungslosigkeit ist die größte Katastrophe“

Die Schutz- und Solidaritätsplattform von Amed organisierte eine Gedenkveranstaltung vor dem eingestürzten Diyar-Galeria-Komplex. Dort waren 89 Menschen gestorben. Zahlreiche Menschen, darunter auch die Kandidat:innen für das Amt der Ko-Bürgermeister:innen der Stadt Amed, Serra Bucak und Doğan Hatun von der DEM-Partei, nahmen an der Gedenkkundgebung teil und legten Blumen nieder. Hatun wies darauf hin, dass alle die Katastrophe, die auf das Erdbeben folgte, bezeugen könnten: „Wir waren auch Zeugen der Vernachlässigung, der fehlenden Verantwortung. Diese stellten eine noch größere Katastrophe dar als das Erdbeben selbst. Die Menschen in Amed haben 17 Minuten nach dem Erdbeben einen Krisenstab gebildet. Zunächst begannen sie, ihre eigenen Wunden zu lindern, dann versuchten sie, den anderen Provinzen mit der gleichen Kraft zu helfen.“

Die Sprecherin der Plattform, Elif Turan, sagte: „Dieses Naturereignis hat sich zu einer Katastrophe entwickelt, weil keine Maßnahmen ergriffen wurden und Wissenschaft und Technik einfach missachtet wurden.“ Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu gedachte ebenfalls der Opfer des Erdbebens.

Adana: „Wir müssen uns selbst schützen“

In Adana organisierte der Erdbebensolidaritätsverein eine Gedenkveranstaltung am Ort des Alpargün-Apartment-Gebäudes, wo 96 Menschen bei dem Erdbeben gestorben waren. Yusuf Köse vom Erdbebensolidaritätsverein sagte: „Wir müssen gemeinsam nachdenken und Entscheidungen treffen. Wir müssen unsere Luft, unser Wasser, unseren Boden, unsere Städte, Dörfer, Nachbarschaften und uns gegenseitig schützen. Kein Vergeben, kein Verzeihen, kein Frieden.“

Osmaniye: Gedenken im Adnan-Menderes-Viertel

In Osmaniye fanden die Gedenkveranstaltungen im Adnan-Menderes-Viertel statt, wo das Erdbeben die schwersten Zerstörungen angerichtet hatte. Neben den Erdbebenopfern nahmen auch der Bürgermeister der Stadt Izmir, Tunç Soyer, und zahlreiche weitere Personen an der Gedenkfeier teil.

Hatay: Protestierende durchbrechen Polizeiabsperrung

In Hatay-Köprübaşı versammelten sich um 04.17 Uhr Tausende von Menschen. Die Gedenkfeier fand in einer Stimmung der Wut und Trauer statt. Die Menschen klagten laut um ihre Toten und protestierten lautstark gegen das AKP/MHP-Regime. Viele Parolen richteten sich gegen den Gesundheitsminister Fahrettin Koca, der am offiziellen Gedenkprogramm teilnahm. Er wurde während seiner Rede ausgebuht. Auch Bürgermeister Lütfü Savaş wurde Hatay ausgepfiffen.