YSP: Wo sind die Einnahmen aus der Erdbebensteuer?

In den Erdbebengebieten in der Türkei leben immer noch viele Menschen unter unwürdigen Bedingungen. Die Regierung hat ihre Wahlkampfversprechen nicht gehalten, sagen die YSP-Sprecher:innen Çiğdem Kılıçgün Uçar und Ibrahim Akın.

Seit den schweren Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet im Februar sind sieben Monate vergangen. Abgeordnete der Grünen Linkspartei (YSP) haben das Erdbebengebiet in der vergangenen Woche besucht und bei ihrer mehrtägigen Rundreise mit den Menschen vor Ort gesprochen. Ihre dabei gewonnenen Eindrücke schilderten die YSP-Sprecher:innen Çiğdem Kılıçgün Uçar und Ibrahim Akın am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Ankara. Uçar sagte: „Im Allgemeinen sind die Gedanken von Regierungen nicht auf die Zeit vor dem Erdbeben ausgerichtet, sondern auf das, was nach dem Erdbeben, also nach der Katastrophe, zu tun ist. Das Bild, das wir sehen, ist, dass die Regierung die staatlichen Einrichtungen dort zu einem Wahlkampfmittel gemacht hat."

Lügen der Regierung

Die Regierung habe keines ihrer Versprechen eingehalten, die sie den Erdbebenopfern vor den Wahlen gemacht hatte, erklärte die YSP-Sprecherin: „Der Schmerz in der Erdbebenregion ist noch sehr frisch, und wir haben gesehen, dass nicht einmal das Mindeste, was getan werden sollte, getan wurde. Ich möchte kurz ein paar Dinge zum Lagebild sagen: Die Menschen leben immer noch in Containern, in einigen Dörfern gibt es keine Container, sie leben in Zelten. AFAD hat die Container nicht gerecht verteilt und es leider unterlassen, diejenigen, die keine Container erhalten haben, mit dem Nötigsten zu versorgen, z. B. mit Bädern und Toiletten. Es besteht immer noch Ungewissheit darüber, wann die Menschen, die einen Rechtsanspruch angemeldet haben, Wohnungen bekommen werden."

Besuch bei Erdbebenopfern in Gurgum, 20. September 2023

Keine Vorkehrungen für den Winter

Uçar wies darauf hin, dass es für die Erdbebenopfer keine Vorkehrungen für den Winter gibt, und berichtete weiter: „Die Menschen zahlen sehr hohe Rechnungen. Die Stromrechnungen sind von 200 oder 300 Lira auf 1000 Lira gestiegen. Vor allem die Landwirte haben große Schwierigkeiten, ihre Produkte zu verkaufen und zu vermarkten." Uçar bezeichnete die Einrichtung einer Kommission im Parlament zu diesem Thema als dringende Aufgabe und sagte: „So wie wir als Grüne Linkspartei am ersten Tag die Solidarität in der Erdbebenregion aufgebaut haben, werden wir auch weiterhin unser Bestes tun, um diese Solidarität auszubauen und die Heilung der Wunden voranzutreiben."

Erdbebenvorschriften müssen geändert werden

Ibrahim Akın sagte: „Wir kritisieren alle Abgeordneten und politischen Parteien dafür, dass sie nicht zugestimmt haben, das Parlament anlässlich des Erdbebens zu einer Sondersitzung einzuberufen. Das Erdbeben hat gravierende Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Etwa 15 Millionen Menschen sind von dem Erdbeben betroffen. Die Türkei ist ein Erdbebengebiet, und wenn Istanbul morgen von einem Erdbeben heimgesucht würde, ist nicht klar, was passieren würde. Die notwendigen Maßnahmen werden de facto und rechtlich nicht getroffen. Das grundlegendste Problem, das wir sehen, ist, dass die Erdbebenvorschriften nach wie vor gelten. Nach den Vorschriften von 1999 wird weitergebaut. Derzeit sind die von [der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft] TOKİ und [der Katastrophenschutzbehörde] AFAD mit dieser Regelung errichteten Bauten gefährdet. Jeder Bau, der ohne Änderung der Erdbebenverordnung durchgeführt wird, ist problematisch und kann wieder zu einem Grab unseres Volkes werden."

Nach dem Erdbeben aufgegebene Orte

Akın stellte fest, dass viele Menschen in den Erdbebengebieten unter menschenunwürdigen Bedingungen leben und versuchen, „mit ihren eigenen Mitteln zu überleben“. Besonders problematisch sei die Situation für Menschen, die zur Miete wohnen. Akın sagte: „Einige Teile von Adıyaman [ku. Semsûr] sind vernachlässigt. Die Menschen haben Probleme mit Wasser und Strom. Während die Strom- und Wasserrechnungen in den Erdbebengebieten 300 bis 400 Lira betrugen, belaufen sie sich jetzt auf über 1000 Lira. Es gibt auch keine Unterstützung für Gesundheitspersonal, Lehrkräfte und andere Angestellte, die dort arbeiten. Es gibt praktisch keinen Unterschied zu den Praktiken im Ausnahmezustand (OHAL). Was auch immer die Angestellten im öffentlichen Dienst in Ankara bekommen, sie bekommen das Gleiche. In Hatay wurden 72 Gesundheitszentren zerstört, dort leben fast eine Million Menschen. Aber der Anteil des Personals, das am selben Ort Gesundheitsdienste anbietet, ist auf ein Prozent gesunken. Ärztinnen und Ärzte wollen nicht dorthin. Es wurden 74 Ärzte für Hatay angefordert, aber nur sechs haben sich beworben. Warum gehen sie nicht hin? Weil die Lebensbedingungen dort sehr schwierig sind, weil es keine Unterstützung gibt, weil es ihnen nicht möglich ist, mit ihren Gehältern in Mietwohnungen oder Containern zu wohnen. Kurz gesagt, der Ort ist nach dem Erdbeben verlassen."

Gesundheitsprobleme

Das gemeinsame Problem in Semsûr, Gurgum (Maraş) und Hatay sei die Gesundheit, fuhr der YSP-Sprecher fort: „Wie uns ein Arzt in Hatay erklärte, gibt es im Zusammenhang mit Asbest neben Lungenkrebs noch rund 80 weitere asbestbedingte Krankheiten. Es gab zum Beispiel Menschen mit schweren gesundheitlichen Problemen, die wir auch gesehen haben. Die Menschen hatten Wunden an Händen und Füßen, die nicht heilen und immer größer werden. Diese Wunden verursachen Krebs. Der Arzt sagte, wenn diese Zustände so weitergehen, kann das Leben der übrigen Menschen in Gefahr geraten. Wenn die Aprikose, die wichtigste Einnahmequelle in Malatya [Meletî], vernichtet wird, werden die Menschen das Gebiet verlassen. Für die Aprikosenproduktion ist Bewässerung notwendig, es muss ein Bewässerungssystem geben.“

Im Gespräch mit Menschen in Hatay, 21. September 2023

Hatay: Größter Schaden und größte Diskriminierung

„Unsere Beobachtungen in Hatay sind wie folgt: Es ist unsere Provinz, die den größten Schaden und die größte Diskriminierung erlitten hat. Es ist fast so, als ob ein besonderer Beschluss gefasst wurde, um die kulturelle Struktur von Hatay zu verändern. Denn es wurde nichts unternommen. In Antep [Dîlok] zum Beispiel wurde mit dem Bau von 13.000 Häusern begonnen, aber in Hatay wurde kein einziges Haus gebaut. Es wird versucht, weitere Enteignungen in Hatay vorzunehmen. Die Menschen kämpfen für ihre Oliven. Ganz offensichtlich kann ohne fachliche Expertise nichts getan werden, um die Infrastruktur von Hatay wieder herzustellen. Institutionen, Ingenieure, Architekten, Mediziner und Pädagogen müssen wissenschaftlich fundierte Lösungen erarbeiten.

Strom, Wasser und alle für den Lebensunterhalt notwendigen Ausgaben der Menschen in Hatay müssen gedeckt werden. Das ist eine öffentliche Aufgabe des Staates, und sie muss erfüllt werden. Der Ort muss unterstützt werden. Es müssen dringend Gebäude gebaut werden. Das Gesundheitsministerium muss dringend in die Pflicht genommen werden. Die Menschen kämpfen ums Überleben. Besonders das Ministerium für Land- und Forstwirtschaft sollte diesen Kampf unterstützen. Es wurde der Notstand ausgerufen. Die Regierung, die die Anforderungen des Ausnahmezustandes nicht erfüllt, sollte unterstützen.“

Wo sind die Steuern?

„Die wichtigste Frage ist: Wohin fließt das Geld aus den Steuern, die von der gesamten Gesellschaft wegen des Erdbebens gezahlt wurden? Es ist bekannt, dass es eine intensive nationale und internationale Unterstützung gab. Wie wird diese Unterstützung für das Erdbeben verwendet? Die Bevölkerung stellt sich diese Frage, auch wir äußern uns dazu. Bei dieser Gelegenheit erklären wir, dass wir die Erdbebenproblematik verfolgen und gemeinsam kämpfen werden. Wir fordern alle Bürgerinnen und Bürger auf, in dieser Frage sensibel zu sein und die Behörden zur Verantwortung zu ziehen. Als Partei der Grünen Linken möchte ich erklären, dass wir das Thema weiter verfolgen werden“, so der YSP-Sprecher Ibrahim Akın.