Die kurdische Presse spielt eine Avantgarderolle für freie und oppositionelle Medien in der Türkei. In dieser Position ist sie seit langem das Ziel von Repression, extralegalen Hinrichtungen, Verhaftungen, Attentaten und Entführungen. Annähernd 100 kurdische Journalist*innen wurden in den 1990er Jahren „unter nicht geklärten Umständen” – zumeist in Polizeigewahrsam – ermordet. Allein 76 von ihnen waren Medienschaffende in der Tradition von Özgür Gündem.
Die Repression der Neunziger setzt sich auch im Jahr 2021 fort. Zuletzt spiegelte sich das an vielen Stellen eines Monatsberichts über die Verletzung der Pressefreiheit des in Amed (tr. Diyarbakir) ansässigen Journalistenvereins DFG (Dicle Fırat Gazeteciler Derneği) wider. Laut der Einrichtung wurden im März sechs Medienschaffende in der Türkei festgenommen, 106 vor Gericht gestellt und ein weiterer Journalist wurde ermordet. Insgesamt 76 Journalistinnen und Journalisten befinden sich aktuell in türkischen Gefängnissen.
Eine 123-jährige Geschichte von Repression und Widerstand
Die kurdische Presse verfügt über eine 123-jährige Geschichte. Es ist eine Verfolgungsgeschichte, die älter als die Republik Türkei ist und deren Spuren sich ins Osmanischen Reich zurückverfolgen lassen. So konnte die Zeitung „Kurdistan“, das erste kurdischsprachige Presseerzeugnis überhaupt, nicht im Siedlungsgebiet der Kurdinnen und Kurden erscheinen, sondern wurde am 22. April 1898 in Ägyptens Hauptstadt Kairo herausgegeben. Herausgeber war Mikdad Midhat Bedirxan, der aus der Adelsfamilie der Bedirxans stammte. Die Familie diente als Vasallen des Osmanischen Reiches, sein Vater Bedirxan Beg, Fürst von Botan, lehnte sich 1847 gegen seine Oberherren auf, wurde jedoch besiegt und nach Kreta ins Exil geschickt. Mikdad Midhat Bedirxan zog es ins Land der Pharaonen. Am 30. April 1898, also acht Tage nach der ersten Ausgabe der Kurdistan, sprach Sultan Abdülhamid II. ein Exportverbot ins Osmanische Reich aus.
Die Zeitung bestand aus vier Seiten und erschien unregelmäßig. Die erste Auflage lag bei 2000 Stück. Die ersten fünf Ausgaben wurden in Kairo veröffentlicht, aufgrund der politischen Situation in Ägypten musste die Zeitung in die Schweiz emigrieren. Die Ausgaben 6-19 erschienen deshalb in Genf, die Ausgaben 20-23 in London, die Ausgaben 24-29 in Folkestone. Mit Ausgabe 30 und 31 erschienen die beiden letzten Ausgaben erneut in Genf. 1902 wurde die Zeitung eingestellt.
Die lange Reise der kurdischen Presse, die mit „Kurdistan“ begann, umfasst heute die ganze Welt in den verschiedensten Formen medialer Präsentation. Tausende Zeitungen und Magazine wurden seitdem publiziert, unzählige Intellektuelle konnten so ihre Gedanken und Ideen an die Gesellschaft weitergeben. Die kurdische Presse entwickelte sich von Beginn an entlang der Linie des Kampfes und Widerstands. Gegenüber Faschismus und Kolonialismus versuchte die kurdische Presse immer wieder, die soziale und politische Realität abzubilden.
Nachrichtenagenturen des kurdischen Volkes
In den 1990er Jahren versuchte das kurdische Volk seine eigenen Medienstrukturen in Form von Agenturen auszuweiten. Viele dieser Einrichtungen wurden im Exil gegründet. Die erste Agentur, DEM, wurde in Deutschland ins Leben gerufen. Weil die Aktivitäten von DEM nicht ausreichten, wurde in Frankfurt am Main die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MHA) gegründet. Am 5. September 2005 fanden Razzien bei der Tageszeitung Özgür Politika und der MHA statt. Beide Einrichtungen wurden unter dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) verboten. Daraufhin wurde am 26. Oktober 2005 ANF (Ajansa Nûçeyan a Firatê) gegründet. Inzwischen bietet ANF aktuelle Meldungen und Hintergrundinformationen in zehn verschiedenen Sprachen an.
DIHA – erste kurdische Nachrichtenagentur auf türkischem Staatsgebiet
Unter der Devise „Wir werden von der Wahrheit nicht abweichen“ wurde am 4. April 2002 die Nachrichtenagentur Dicle (DIHA) als erste kurdische Nachrichtenagentur auf türkischem Staatsgebiet gegründet. DIHA hatte den Wahlspruch „Keine Zugeständnisse bei der Wahrheit“ und lehnte jede Form der Selbstzensur ab. Sie wurde am 29. Oktober 2016 per Notstandsdekret verboten.
DIHABER – nach einem Jahr verboten
Am 14. November 2016 wurde DIHABER gegründet, um als Nachfolgerin von DIHA trotz Verboten und Repression die demokratische Öffentlichkeit zu informieren. Noch nicht einmal ein Jahr später sprach die türkische Regierung im August 2017 mit Verweis auf die Notstandsgesetze ein Verbot aus.
Frauennachrichtenagentur JINHA
In Amed (tr. Diyarbakır) kamen am 8. März 2012 zahlreiche feministische Journalistinnen zusammen, um die erste Frauennachrichtenagentur, JINHA, zu gründen. Von der Chefredakteurin über Korrespondentinnen bis hin zu den Mitwirkenden hinter der Kamera waren alle Mitarbeiterinnen Frauen. JINHA hatte den Anspruch, das patriarchal geprägte Nachrichtenwesen zu durchbrechen. Die Agentur publizierte auf Kurdisch, Türkisch, Englisch und Arabisch. Sie wurde am 30. Oktober 2016 verboten, ebenfalls per Regierungsdekret. Die Journalistinnen gründeten daraufhin am 19. Dezember 2016 das Frauennachrichtenportal Sûjin, das am 25. November 2017 auf Anordnung des Innenministeriums geschlossen wurde. Seit dem 25. September 2017 existiert JinNews als Frauennachrichtenagentur. Sie publiziert auf Kurmancî, Kirmanckî, Türkisch, Englisch und Arabisch.
Nachrichtenagentur MA
Am 20. September 2017 wurde die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) gegründet. Seit ihrer Gründung wurde die Webseite unzählige Male gesperrt und musste auf neue URLs ausweichen. Etliche Korrespondent*innen von MA wurden festgenommen oder inhaftiert. Zuletzt befanden sich ihre Mitarbeiter Adnan Bilen und Cemil Uğur sowie Şehriban Abi (JinNews) und Nazan Sala (freie Journalistin) ein halbes Jahr lang unter dem Vorwurf der „staatsfeindlichen Berichterstattung“ und angeblicher PKK-Mitgliedschaft in Untersuchungshaft. Ihnen wird die für den türkischen Staat unliebsame Berichterstattung im Fall der zwei Dorfbewohner Osman Şiban (50) und Servet Turgut (55), die im September in der Nähe von Şax (Çatak) vom türkischen Militär verschleppt, gefoltert und aus einem Hubschrauber gestoßen worden waren, zur Last gelegt. Am ersten Prozesstag kamen die Journalist*innen zwar frei, das Verfahren geht aber weiter.
Geschichte der Aufklärung
Die Geschichte der kurdischen Presse ist eine Geschichte der Aufklärung und des Widerstands. Innerhalb der vergangenen 20 Jahre AKP-Herrschaft waren kurdische Medien permanenter Repression, Zensur und Angriffen ausgesetzt. Insbesondere mit dem 2016 ausgerufenen Ausnahmezustand wurden viele freie Presseinrichtungen geschlossen. Die Feindschaft des Regimes richtet sich sowohl gegen den aufklärerischen Inhalt der Medien als auch gegen die kurdische Sprache.
Eine Geschichte voller Schmerz
In der Region aktive Journalistinnen und Journalisten haben sich gegenüber ANF über ihre Situation geäußert. Die Journalistin Gülistan Azak von JinNews sagt: „Die Repression gegen Medienschaffende findet ganz offen statt. Sie steht in einer langjährigen Kontinuität. In den neunziger Jahren war die Unterdrückung der Presse besonders brutal. Ganze Redaktionsgebäude von Zeitungen wurden in die Luft gejagt, dutzende Journalisten ermordet, inhaftiert und gefoltert. Wir kennen diese Zeit sehr genau. Die Geschichte des Journalismus in der Türkei ist voll von Hindernissen und Leid. Trotz dieser Herausforderungen gibt es weiterhin freien Journalismus. Es ist die Pflicht von uns allen, die Fakten nicht im Dunkeln zu lassen und sie der Gesellschaft zugänglich zu machen. Ja, es stimmt, es gibt Repression und Drohungen, aber der Kampf, die Wahrheit zu enthüllen, geht weiter. So groß das Ausmaß der Unterdrückungs- und Einschüchterungspolitik auch sein mag, die freie Presse ist eine Quelle, die niemals austrocknen und weiterhin dem Weg der Wahrheit folgen wird.“
Gülistan Azak
Repression gegen Journalistinnen ist besonders intensiv
Laut Azak ist die Repression besonders gegen Journalistinnen hoch: „Jeden Tag gibt es Verhaftungen und Festnahmen von Frauen, die für die freie Presse arbeiten. Dies zeigt, dass der Staat nicht in der Lage ist, das Wirken dieser Frauen zu tolerieren. Angriffe auf Journalistinnen sind nicht unabhängig von der patriarchalen Gewalt zu betrachten. Insbesondere wir Journalistinnen sind bei unserer Arbeit polizeilicher Repression und Übergriffen ausgesetzt. Sie hindern uns daran, unsere Arbeit zu machen, und erschweren es uns, die Tatsachen ans Licht zu bringen. Dabei werden auch die Geräte, die wir verwenden, beschlagnahmt oder zerstört. Trotz all dieses Drucks werden wir unseren Kampf niemals aufgeben, ob drinnen oder draußen. Journalismus ist kein Verbrechen, und unsere Aufgabe ist es, die Wahrheit aufzudecken und zu teilen.“
„Repression auf höchstem Niveau“
Zeynel Abidin Bulut ist Redakteur der kurdischen Zeitung Xwebûn und gehört zum Vorstand des Journalistenvereins DFG. Er meint, dass sich die Repression gegen Kolleginnen und Kollegen momentan auf dem bisher höchstem Niveau befindet. „Der Grund dafür ist, dass wir permanent hinter der Wahrheit her sind und versuchen, diese an die Öffentlichkeit zu bringen. Zur Verantwortung der Presse gehört es auch, die Politik der Regierung öffentlich zu machen. Deshalb werden wir von Repression und Einschüchterungsversuchen überzogen. Es ist die Pflicht im Journalismus, die Wahrheit mitzuteilen und die Gesellschaft nicht im Dunkeln zu lassen.“
Zeynel Abidin Bulut
„Repression unter AKP-Herrschaft gestiegen“
Vor allem seit die APK in Ankara an der Macht ist, habe der Druck auf kurdische und oppositionelle Medien zugenommen, unterstreicht Bulut. „Wir sehen, dass sich heute dutzende Journalistinnen und Journalisten in Gefängnissen befinden und hunderte strafrechtlich verfolgt werden. Warum werden Medienschaffende in diesem Land inhaftiert? Das liegt am Mangel an Demokratie und Meinungsfreiheit. Es gibt keine Rechtssicherheit und grundlegende Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Menschen, die über diese Realität berichten, werden sofort ins Visier genommen.“
„Die Wahrheit wird nicht im Dunkeln bleiben“
Überall auf der Welt müssen Journalisten das Recht haben, offen und ohne Hindernisse ihren Aufgaben nachzukommen, fordert Bulut. „Hier ist man aber allen möglichen Angriffen der Polizei ausgesetzt. Gleichzeitig werden veröffentlichte Nachrichten von der Regierung zensiert oder Webseiten für den Zugriff gesperrt. Als ob das nicht ausreichen würde, werden Journalistinnen und Journalisten verfolgt und daran gehindert, ihre Arbeit zu erledigen. In der Türkei wurde ein Journalismus geschaffen, der nur eine Farbe kennt. So etwas kann eigentlich gar nicht als Journalismus bezeichnet werden. Die Regierung hat alles und jeden von sich abhängig gemacht. Diejenigen, die nicht zu ihren Verbündeten zählen, werden verfolgt und behindert.“
„Die Haltung gegenüber der freien und oppositionellen Presse ist unverändert“
Firat Topal ist Korrespondent der linken Zeitung Evrensel. Auch er stellt fest, dass die ständige Repression gegen die freie und oppositionelle Presse zunehmend intensiver wird. „Regierungen mögen gewechselt haben, doch die Haltung der Regime gegenüber der freien und oppositionellen Presse verändert sich nicht. Man muss sich hier nur den Blick auf Journalisten anschauen und wie sie beschrieben werden. Bist du oppositionell, wird dir dein Beruf als Journalist abgesprochen. Stört sich die Regierung an deiner Arbeit, wird das, was du tust, als Verbrechen definiert.“
Firat Topal
Topal kommt auf die vielen Prozesse gegen Journalistinnen und Journalisten in der Türkei zu sprechen, die allein aufgrund ihrer Arbeit vor Gericht stehen. „Journalismus wird hierzulande als Straftat definiert. Da liegt heute das Problem. Wenn heute ein oppositioneller Journalist versucht, von der Straße zu berichten, wird er mit Repression überzogen, angegriffen oder inhaftiert. Die Regierung versucht ein Klima zu erzeugen, in dem sich Medienschaffende schuldig fühlen, weil sie berichten. Man soll sich so fühlen, als würde man etwas Schlimmes tun, wenn man berichtet. Nur wenn die Nachrichten die Regierung nicht stören, wird man als Journalist betrachtet. Ist das Gegenteil der Fall, wird der Journalist als eine Maschine betrachtet, die am laufenden Band Straftaten produziert.“
„Die Presse soll nach Gutdünken eingeschüchtert werden“
Topal weist darauf hin, dass die Inhaftierungen und Festnahmen von Medienschaffenden der Einschüchterung und Disziplinierung dienen sollen: „Vor sechs Monaten wurden Kollegen von MA inhaftiert. Die Presse soll nach Gutdünken eingeschüchtert und dazu gebracht werden, die Wahrheit zu ignorieren. Aber die Wahrheit hier wird niemals im Dunkeln bleiben. Wir werden die Wahrheit stets an die Öffentlichkeit bringen.“
„Breite Solidarität notwendig“
Die Journalistin Pınar Gayıp ist als Korrespondentin für die Nachrichtenagentur ETHA tätig. Seitdem sie Mitte Januar bei einer Operation gegen die sozialistische Partei ESP festgenommen wurde, befindet sie sich im Hausarrest. Diese Form der Bestrafung ist eine Maßnahme, die in letzter Zeit häufig angeordnet wird. Zur Situation der Presse in der Türkei erklärt Gayıp: „Die freien Medien werden zum Ziel des Regimes, weil sie an der Seite des Volkes stehen, an der Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Wir müssen einen hohen Preis dafür zahlen, dass wir der Wahrheit nachgehen und sie der Öffentlichkeit präsentieren.
Pınar Gayıp
Seit langem wir die freie Presse angegriffen. Ihre Büros werden in die Luft gesprengt, Journalistinnen und Journalisten werden entführt oder ermordet. Etliche Pressevertreter wurden inhaftiert und viele weitere stehen im Moment vor Gericht. Der einzige Grund dafür liegt darin, dass sie ein Hindernis für die Regierung darstellen, die Öffentlichkeit mit ihren Lügen zu überschwemmen.
Insbesondere wenn wir als Korrespondentinnen vor Ort arbeiten, werden wir von der Polizei angegriffen. Uns wird unsere Arbeit verboten. Es wird sehr hart gegen uns vorgegangen, das macht es uns schwer, die Fakten zu veröffentlichen. Ebenso wird immer wieder unsere komplette Ausrüstung beschlagnahmt, manchmal sogar zerschlagen. Das alles geschieht, um unsere Arbeit zu beeinträchtigen. Gegenüber diesen Angriffen führt die freie Presse einen sehr wichtigen Widerstandskampf. Gegenüber diesen Angriffen ist eine breite Solidarität notwendig.“
„Totaler Angriff auf freie Presse“
Lezgin Tekay von MA spricht über die Methoden, mit denen die Presse vor allem in den kurdischen Regionen zum Schweigen gebracht wird.
Lezgin Tekay
„Zwei unserer Kollegen, die über die beiden Dorfbewohner berichteten, die aus einem Militärhubschrauber geworfen worden waren, wurden erst nach monatelangem Prozess freigelassen. Sie sind allein wegen ihrer Berichterstattung angeklagt worden, die Anklage lautet jedoch auf ‚Mitgliedschaft in einer Terrororganisation‘. Auch andere Kolleginnen und Kollegen von uns stehen unter verschiedenen Vorwürfen vor Gericht. Wir werden bestraft, weil sich die Regierung an der Wahrheit stört. Wir werden regelmäßig vom Geheimdienst MIT oder der Antiterrorpolizei angerufen, belästigt und bedroht. Aber ganz gleich, was auch passiert, diese Unterdrückung und Einschüchterung kann uns nicht von der Wahrheit fernhalten. Als Wirkende der freien Presse werden wir weiterschreiben und dafür sorgen, dass die Wahrheit niemals im Dunkeln bleibt.“