Kurdische Presse missfällt gleichgeschalteter Medienlandschaft

Kritische Berichterstattung in der Türkei ist nicht erst seit Erdoğan ein Minenfeld. Von Verhaftungen über Entführungen bis hin zu Mord haben Repressionen gegen oppositionelle Journalisten seit Staatsgründung Tradition – insbesondere gegen kurdische.

Seit 1950 gehört die Türkei dem Europarat an und hat sich zur Einhaltung der „Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten“ verpflichtet – und damit auch zur Respektierung der Pressefreiheit. In der Praxis wird die Pressefreiheit jedoch nicht erst seit Erdoğan untergraben. Bereits mit Gründung der türkischen Republik wurde wie in anderen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Alltags auch eine erzwungene Gleichschaltung der Medien und der öffentlichen Meinung durch die Staatsführung eingeleitet. So beinhaltete die erste türkische Verfassung aus dem Jahre 1924 im Artikel 22 den Satz: „Die Presse ist frei”, im Artikel 70 wurde hinzugefügt, dass „die Presse- und Meinungsfreiheit ein elementares Recht der Türken” sei. Damit leugnete diese Regelung nicht nur die Existenz aller anderen ethnischen Gruppierungen innerhalb der Staatsgrenzen – auch die der Kurden, sondern zerstörte Bemühungen wie die freie Meinungsäußerung oder Pressefreiheit bereits im Keim. Aufgrund des Einparteiensystems lag in der Türkei über Jahrzehnte alle Macht bei der von Atatürk gegründeten CHP. Eine Opposition dagegen gab es nicht – erst recht nicht in den Zeitungen. Staatskritischer Journalismus war faktisch verboten. In den kurdischen Gebieten rechtfertigte die im Dienst der Macht des Präsidenten stehende Medienlandschaft das gewaltsame Vorgehen des Staates gegen den „unzivilisierten Südosten”, während „die notwendige Niederschlagung” von Aufständen begrüßt wurde. Nahezu identisch wie heute kannten die gleichgeschalteten Medien in der Türkei nur einen nationalen Furor. Wenn dennoch die ohnehin äußerst begrenzten kritischen Stimmen laut wurden, vor allem hinsichtlich der Kurden, folgten in Windeseile Sanktionen und strafrechtliche Verfolgung – wegen „Separatismus”. Die entsprechenden Gesetze waren aus dem Strafgesetzbuch des faschistischen Italiens unter Mussolini übernommen worden.

Buch über kurdisches ABC verboten, Herausgeber inhaftiert

Aufgrund der Repression war es unmöglich, innerhalb der Türkei ein kurdisches Medienwesen zu entwickeln. Versuchen von kurdischen Intellektuellen, Zeitschriften mit ausschließlich kulturellen Inhalten herauszubringen, wirkte der Staat mit Gewalt und Strafen entgegen. So wurde schon die erste Ausgabe von Alfabê, das erste Buch über das kurdisch-lateinische Kurmancî-Alphabet, im Jahre 1968 beschlagnahmt, bevor das Werk später gänzlich verboten wurde. Der Herausgeber Mehmed Emin Bozarslan wurde inhaftiert und verbrachte drei Jahre in einem Militärgefängnis in Amed (türk. Diyarbakir). Den Höhepunkt der Angriffe gegen die Presse- und Meinungsfreiheit bildete jedoch die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 erlassene Verfassung aus dem Jahr 1982. Nicht nur die Pressefreiheit war abgeschafft worden, sondern sämtliche Grundrechte waren fortan verboten.

Als 1987 für den Südosten – die kurdischen Regionen innerhalb der türkischen Staatsgrenzen – das Ausnahmezustandsgesetz mit dem Ziel, die „öffentliche Sicherheit und Ordnung zu garantieren”, in Kraft trat und somit die Rechtsgrundlage für die Entvölkerung und Zerstörung kurdischer Dörfer gebildet wurde, erhielten die von der Regierung ernannten Provinzgouverneure die Vollmacht darüber, was veröffentlicht werden durfte und was nicht. Verfasser oder Herausgeber von Druckerzeugnissen, die ihre eigene Version zur Lage der Kurden in ihrer Berichterstattung zum Ausdruck brachten, wurden verfolgt und mit schwerer Haft geahndet.

Eine Mitarbeiterin vor dem explodierten Redaktionsbüro von Özgür Ülke, Dezember 1994 Istanbul

Doch gegen den Staatsterror in Kurdistan hatte sich mit der PKK bereits eine Widerstandsbewegung etabliert, die immer mehr Unterstützung aus der Bevölkerung bekam. Unter dem Einfluss dieser breiten Volksbewegung entstand Anfang der 90er Jahre ein neuer „kurdischer Journalismus“ – die „freie Presse”. Journalisten begannen, ihre kurdische Identität bei der Ausübung ihres Berufes in den Vordergrund zu stellen. Mit dem Erscheinen von Özgür Gündem („Freie Tagesordnung”) am 30. Mai 1992 existierte sodann die erste unabhängige prokurdische Tageszeitung, die nicht der staatlichen Kontrolle unterworfen war. Während die türkischen Medien den Terror gegen die kurdische Bevölkerung rechtfertigten und den Konflikt zwischen der PKK und der Armee als „Terror von Kriminellen gegen die Brüderlichkeit der türkischen Völker“ darstellend entpolitisierten, war Özgür Gündem das einzige Blatt, das schwerpunktmäßig über den Krieg in Kurdistan berichtete – trotz bestehender repressiver Gesetze. Es dauerte schließlich nicht besonders lang, bis die Zeitung ins Visier staatlicher Organe rückte.

Bombardierung von Özgür Ülke in Istanbul und Ankara

Bereits ab Januar 1993 musste die Özgür Gündem infolge von Repression für drei Monate eingestellt werden. Die nachfolgende Phase war geprägt von ständigen Durchsuchungen der Redaktionsräume und Verhaftungen der Mitarbeiter. Urteile von Staatssicherheitsgerichten über Haftstrafen von bis zu 75 Jahren führten am 24. April 1994 zur Schließung der Zeitung. Während ihrer zweijährigen Erscheinungszeit wurden acht Korrespondenten und 19 Verteiler von Özgür Gündem durch „unbekannte Täter” ermordet. Ab dem 28. April 1994 erschien mit Özgür Ülke („Freies Land”) eine Zeitung, die an die Arbeit von Özgür Gündem anknüpfte. Doch auch ihre Lebenszeit war nicht von langer Dauer. Nach mehreren Durchsuchungen wurden in der Nacht zum 3. Dezember 1994 die Redaktionsräume in Istanbul und Ankara auf Befehl der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller in die Luft gesprengt. Dabei kam ein Mitarbeiter ums Leben, etwa 20 weitere wurden teils schwer verletzt. Dennoch gelang es Özgür Ülke, einen Tag später eine Ausgabe mit der Schlagzeile „Dieses Feuer wird euch auch verbrennen!“ herauszubringen. Im Februar 1995 wurde die Zeitung verboten.

Fast 100 kurdische Journalisten in den 90er Jahren getötet

Annähernd 100 kurdische Journalisten sind in den 1990er Jahren „unter nicht geklärten Umständen” – zumeist in Polizeigewahrsam – ermordet worden. Allein 76 von ihnen waren Medienschaffende in der Tradition von Özgür Gündem. Die freie kurdische Presse ließ sich nicht einschüchtern und gründete ihre geschlossenen Zeitungen immer wieder unter neuem Namen neu. Als aktuelles Nachfolgemedium gilt die 2018 gegründete Yeni Yaşam („Neues Leben”). Einer ihrer Mitarbeiter und Kolumnisten ist der bereits mehrfach inhaftierte Journalist Hüseyin Aykol. Der 1952 im westtürkischen Manisa geborene Aykol fing in den 1970er Jahren an, für oppositionelle und sozialistische Magazine und wöchentlich erscheinende Zeitungen zu schreiben. Als Özgür Gündem zum ersten Mal erschien, gehörte Aykol bereits zum Redaktionsteam. Jahrelang war er Chefredakteur ihrer Nachfolgerinnen und wirkte auch in den Ressorts mit. Auch heute setzt er seinen Beruf in der Tradition der freien Presse fort.

 

Genetisch veränderte Medien zugunsten Erdoğans

Hüseyin Aykol sagt, dass die Medien in der Türkei heute nichts weiteres als Erdoğans Propaganda-Klavier seien. „Seit 2002 ist die AKP ununterbrochen an der Macht, überwiegend in Alleinregierung. Durch das Einparteiensystem stehen die Zeitungen als Medienlandschaft der neuen Kapitalkraft im Dienst des Präsidenten. Da es keine alternative Partei gibt, die an die Macht kommen könnte, erheben diese Zeitungen auch nicht den Anspruch, journalistisch zu arbeiten. Sie schmücken ihre Titelseiten mit den Worten des AKP-Vorsitzenden und schaffen Nachrichten ohne Recherche.”

Aykol erinnert an das Ende des staatlichen Rundfunkmonopols 1990 in der Türkei, das auch die Print- und Presselandschaft beeinflusste. Schnell wurde der Markt damals zu einem Modell, in dem Printmedienbesitzer Rundfunksender oder Rundfunkbesitzer Printmedien aufkauften oder gründeten. Der Pressemarkt wuchs dadurch rasant an und veränderte sich. Es brach ein Konkurrenzkampf unter den Medienbesitzern aus, die Presse wurde bunter und dynamischer. Heute hat sich die Presse in der Türkei zu Gunsten Erdoğans wieder genetisch verändert. Über neunzig Prozent der Medien befinden sich unter der direkten oder indirekten Kontrolle des türkischen Präsidenten. Kritische Berichterstattung bleibe daher auch weiterhin ein Minenfeld, sagt Aykol. Aber es keime Hoffnung auf.

„Herr Öcalan” Grund für Verfahren und Haftstrafen

„Der Presse in der Tradition von Özgür Gündem wird hin und wieder Agitation vorgeworfen. Insbesondere in unseren Anfangsjahren wurden wir immer wieder mit der Behauptung konfrontiert, Propaganda oder Hetze zu betreiben”, erinnert sich Aykol. Ihm und seinen Kollegen sei Übertreibung bei der Berichterstattung aus Kurdistan vorgeworfen worden. „Dabei galt die an uns gerichtete Kritik den Berichten eines selbstlosen Widerstands. Jeder Kampf bringt seine Helden und damit auch eine einzigartige Schönheit hervor. Weil wir diese Schönheit widerspiegeln, heißt es, wir würden Agitation betreiben oder journalistische Schreibregeln nicht beachten. Dass das nicht zutrifft und es ‚die andere Seite der Medienlandschaft‘ ist, die nicht im Einklang mit der Medienethik handelt, lautet auch heute noch unsere Reaktion auf solche Behauptungen. Als Beispiel dient die Berichterstattung der Medien auf Staatslinie hinsichtlich Abdullah Öcalan, in der es stets ‚Verräter‘ oder ‚Terrorist‘ heißt“, unterstreicht Aykol und erinnert in diesem Zusammenhang an diverse Verfahren gegen seine Zeitung, weil sie „Herr Öcalan” titelte.

Wir tun das Richtige

„Unabhängigen Journalismus, unabhängige Medien und freie Medien allein existieren nicht. Es kommt immer auf den Blickwinkel an und wo man selbst steht“, sagt Aykol. „Für uns bedeutet Freiheit, trotz der Regierung, den Monopolen und dem Kapitalismus dem Leser die Wahrheit zugänglich zu machen. Bei allem weiteren geht es nur darum, an wessen Seite man ist. Wir fühlen uns den Arbeitern verbunden, nicht dem Kapitalmarkt. Das bedeutet, für die 90 Prozent der Armen zu sein, statt für die Reichen und Mächtigen. Wir vertreten das Verständnis, die Fehler des Kapitalismus, der Banken und Generäle vor Augen zu führen. Und genau deshalb ziehen wir es vor, uns frei zu nennen statt unabhängig. Das, was wir unter dieser Freiheit verstehen, ist, mit den Völkern und Arbeitern verbunden zu sein. Wir tun das Richtige und sind ruhigen Gewissens. Denn die wahren Nachrichten sind genau hier.“