Am 3. Dezember 1994 wurde das Gebäude der Tageszeitung Özgür Ülke in Istanbul in die Luft gesprengt. Der Zeitungsmitarbeiter Ersin Yildiz kam bei dem Anschlag ums Leben. Am Tatort im Stadtteil Kadirga fand heute eine Gedenkveranstaltung statt, an der neben zahlreichen Journalistinnen und Journalisten auch die IHD-Vorsitzende Eren Keskin und die HDP-Abgeordnete Hüda Kaya teilnahmen.
Die Veranstaltung wurde mit einer Schweigeminute für alle getöteten Medienschaffenden eingeleitet. Dann hielt Zekine Türkeri, die zum Zeitpunkt des Bombenanschlags als Korrespondentin der Zeitung arbeitete, eine Rede. Sie wies darauf hin, dass bereits Hunderte Mitarbeiter*innen der kurdischen Medien bei dem Versuch ums Leben gekommen sind, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen: „Ich habe vor 26 Jahren hier gearbeitet. Als ich morgens zur Arbeit kam, war das Gebäude weg. Es war eingestürzt. Fast 20 Kolleginnen und Kollegen waren verletzt im Krankenhaus und Ersin Yildiz war nicht mehr unter uns. Wir haben uns zusammengerissen und die Zeitung erschien am nächsten Tag mit der Schlagzeile ,Dieses Feuer wird auch euch verbrennen'. Damit wollten wir vermitteln, dass es allen schadet, wenn die kurdische Frage nicht gelöst wird.“
Die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller und die Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats, die den Bombenanschlag in Auftrag gegeben hatten, seien längst „in der Dunkelheit der Geschichte begraben“, führte Zekine Türkeri weiter aus. Die Zeitung hingegen erscheine mit derselben Entschlossenheit wie damals weiter – wenn auch unter anderen Namen. „Auch die faschistische Regierung von heute wird gehen, die Epoche wird sich ändern. Die kurdische Jugend wird überall weiterkämpfen und die Zeitung wird es immer geben.“
Eren Keskin, die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, hat die Özgür Ülke zur Zeit des Bombenanschlags als Rechtsanwältin vertreten und war jahrelang Redakteurin der Vorläufer-Zeitung Özgür Gündem. Dafür wurde sie zu insgesamt 17 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. „Ich kann jederzeit in Haft genommen werden“, sagte die renommierte Menschenrechtsanwältin auf der Gedenkveranstaltung. Damit sei sie jedoch nicht allein, unzählige Gleichgesinnte seien im Gefängnis oder ermordet worden.
Im Anschluss an die Reden wurden Nelken am Tatort niedergelegt.
Kurdischer Journalismus: Die freie Presse
Parallel zu der breiten Volksbewegung in Kurdistan entstand Anfang der 90er Jahre ein neuer „kurdischer Journalismus“ – die „freie Presse”. Journalistinnen und Journalisten begannen, ihre kurdische Identität bei der Ausübung ihres Berufes in den Vordergrund zu stellen. Mit dem Erscheinen von Özgür Gündem („Freie Tagesordnung”) am 30. Mai 1992 existierte sodann die erste unabhängige prokurdische Tageszeitung, die nicht der staatlichen Kontrolle unterworfen war. Während die türkischen Medien den Terror gegen die kurdische Bevölkerung rechtfertigten und den Konflikt zwischen der PKK und der Armee als „Terror von Kriminellen gegen die Brüderlichkeit der türkischen Völker“ darstellend entpolitisierten, war Özgür Gündem das einzige Blatt, das schwerpunktmäßig über den Krieg in Kurdistan berichtete – trotz bestehender repressiver Gesetze. Es dauerte schließlich nicht besonders lang, bis die Zeitung ins Visier staatlicher Organe rückte.
Bombardierung von Özgür Ülke in Istanbul und Ankara
Bereits ab Januar 1993 musste die Özgür Gündem infolge von Repression für drei Monate eingestellt werden. Die nachfolgende Phase war geprägt von ständigen Durchsuchungen der Redaktionsräume und Verhaftungen der Mitarbeiter*innen. Urteile von Staatssicherheitsgerichten über Haftstrafen von bis zu 75 Jahren führten am 24. April 1994 zur Schließung der Zeitung. Während ihrer zweijährigen Erscheinungszeit wurden acht Korrespondenten und 19 Verteiler von Özgür Gündem durch „unbekannte Täter” ermordet.
Ab dem 28. April 1994 erschien mit Özgür Ülke („Freies Land”) eine Zeitung, die an die Arbeit von Özgür Gündem anknüpfte. Doch auch ihre Lebenszeit war nicht von langer Dauer. Nach mehreren Durchsuchungen wurden in der Nacht zum 3. Dezember 1994 die Redaktionsräume in Istanbul und Ankara auf Befehl der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller in die Luft gesprengt. Dabei kam ein Mitarbeiter ums Leben, etwa 20 weitere wurden teils schwer verletzt. Dennoch gelang es Özgür Ülke, einen Tag später eine Ausgabe mit der Schlagzeile „Dieses Feuer wird euch auch verbrennen!“ herauszubringen. Im Februar 1995 wurde die Zeitung verboten.
Fast 100 kurdische Journalisten in den 90er Jahren getötet
Annähernd 100 kurdische Journalist*innen sind in den 1990er Jahren „unter nicht geklärten Umständen” – zumeist in Polizeigewahrsam – ermordet worden. Allein 76 von ihnen waren Medienschaffende in der Tradition von Özgür Gündem. Die freie kurdische Presse ließ sich nicht einschüchtern und gründete ihre verbotenen Zeitungen immer wieder unter anderen Namen neu. Als aktuelles Nachfolgemedium gilt die 2018 gegründete Yeni Yaşam („Neues Leben”). Einer ihrer Mitarbeiter und Kolumnisten ist der bereits mehrfach inhaftierte Journalist Hüseyin Aykol. Der 1952 im westtürkischen Manisa geborene Aykol fing in den 1970er Jahren an, für oppositionelle und sozialistische Magazine und wöchentlich erscheinende Zeitungen zu schreiben. Als Özgür Gündem zum ersten Mal erschien, gehörte Aykol bereits zur Redaktion. Jahrelang war er Chefredakteur ihrer Nachfolgerinnen und wirkte auch in den Ressorts mit. Auch heute setzt er seinen Beruf in der Tradition der freien Presse fort.