„Wir sind die Stimme der kranken Gefangenen!“

Hatice Onaran vom Menschenrechtsverein IHD in Istanbul klagt die lebensbedrohliche Situation kranker Gefangener in der Türkei an und fordert zum dringenden Handeln auf.

Seit dem Beginn der Pandemie und insbesondere in den letzten Monaten hat sich die Situation der politischen Gefangenen in den türkischen Haftanstalten deutlich verschlechtert. Besonders betroffen sind die kranken Gefangenen. Ihnen werden ärztliche Behandlung oder die Entlassung aus dem Gefängnis oft verweigert. Immer wieder sterben politische Gefangene unter verdächtigen Umständen.

Die Gefängniskommission des Menschenrechtsvereins IHD in Istanbul verfolgt seit Jahren die Situation der kranken Gefangenen. Im ANF-Gespräch berichtet das Kommissionsmitglied Hatice Onaran über die Situation.

Sie beschreibt die Lage als „schlimmer als nach dem Putsch von 1980“. Die Gefangenen seien unmenschlicher Behandlung und Folter ausgesetzt und schwerst kranke Gefangene würden aufgrund der Rachegelüste des Staates nicht entlassen.

Mit dem Ende des Friedensprozesses wurden die Versprechen ad acta gelegt“

Die Eskalation der Haftbedingungen sei graduell erfolgt, sagt Onaran und erinnert daran, dass es noch vor wenigen Jahren im Rahmen des Friedensprozesses große Hoffnung auf Freilassung der kranken Gefangenen gegeben habe.

Die IHD-Gefängniskommission veranstaltet jeden Samstag in den türkischen Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir eine „F-Sitzung“ in Anlehnung an das türkische Isolationshaftsystem F-Typ. Die Kommissionsvertreterin berichtet, dass es 2014 im Rahmen der „F-Sitzungen“ eine Demonstration gegeben habe und zum ersten Mal ein Treffen mit einem Staatssekretär des Justizministeriums stattgefunden habe. Dabei wurden dem Staatssekretär Informationsdossiers zur Situation der kranken Gefangenen übergeben. Dieser habe damals versprochen: „Ihr habt hier eine Liste mit 60 Personen hergebracht, aber wir werden mehr entlassen.“ Mit dem Ende des Friedensprozesses sei dieses Versprechen jedoch ad acta gelegt worden.

Gefängnisse für zivilgesellschaftliche Organisationen geschlossen“

Die Bedingungen in den Gefängnissen hätten sich insbesondere nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 verschlechtert, so Onaran. Seit der Ausrufung des Ausnahmezustands haben das Justizministerium, das Gesundheitsministerium und das Innenministerium keine Daten mehr über die Gefängnisse veröffentlicht, und es sei unmöglich geworden, Informationen aus den Gefängnissen zu erhalten. „Nach dem Putschversuch wurden die Gefängnisse für NGOs geschlossen und die Möglichkeiten des Informationsaustauschs mit den Gefangenen blockiert. Stattdessen begann das Justizministerium, sich für die Zahl der neu eröffneten Gefängnisse zu loben. So als wären es Fabriken.“

Keine Maßnahmen gegen die Pandemie“

Onaran weist darauf hin, dass die Repression und der Druck auf die Gefangenen mit dem Ausbruch der Pandemie ein extremes Niveau erreicht haben und damit noch weniger Informationen aus den Gefängnissen kämen als zuvor. Die Menschenrechtlerin nimmt die Situation im Gefängnis von Silivri als Beispiel und berichtet, dass viele Gefangene aufgrund fehlender Maßnahmen infiziert wurden. Anschließend seien sie in Quarantänezellen gesteckt worden und konnten ihre Familien kaum noch über Telefon informieren. Onaran führt dazu aus: „Den Familien wurde nicht einmal gesagt, dass ihre inhaftierten Angehörigen Corona haben. Dies kam erst in Telefonaten mit den Betroffenen selbst ans Licht. Es wurde weder informiert noch wurden Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Als die Pandemie begann, erfuhren wir, dass Besuche am Anfang nicht vollständig verboten worden waren. Wir hätten gerne gehört, dass die notwendigen Maßnahmen zuerst in den Gefängnissen ergriffen würden. Desinfektionsmittel wurden nicht ausgegeben, Gefangene wurden in vollkommen überfüllten Zellenblöcken und Zellen festgehalten. Wachpersonal, das bei Zellendurchsuchungen keine Masken trug, lud die Pandemie regelrecht in die Gefängnisse ein. Während bei den Razzien die Pandemie vollkommen ignoriert wurde, wurden Krankenhausbesuche der kranken Gefangenen unter dem Vorwand der Pandemie verhindert und sie wurden durch lange Quarantänezeiten regelrecht bestraft. Wenn sie auf die Krankenstation gebracht wurden, erhielten sie ein Schmerzmittel und wurden dann in ihre Zellen zurückgeschickt. Jetzt werden kranke Gefangene auf entwürdigen Weise im Mund durchsucht, wenn sie ins Krankenhaus gehen. So wird der Besuch des Krankenhauses behindert.“

Es herrscht Feindseligkeit gegenüber den Gefangenen“

Auch wenn die Besuche wieder aufgenommen wurden, gehe die unmenschliche Behandlung, manchmal unter dem Vorwand der Pandemie, manchmal mit anderen Begründungen, weiter, erklärt Onaran und weist insbesondere auf Nacktdurchsuchungen, Einzelhaft, Schläge und Folterungen hin. Der Staat gehe aber nicht nur gegen politische Gefangene vor, sondern richte sich gegen jede Form von Opposition und agiere voller Klassenhass. Dieser Hass und diese Marginalisierung seien zu einer Methode der Bestrafung geworden. Onaran fasst zusammen: „Egal welche Strafe die Gefangenen erhalten, sie sollen nie wieder entlassen werden.“ Damit weist Onaran unter anderem auf die willkürlichen Disziplinarstrafen und die Verweigerung der Entlassung bei fehlender Reue hin.

Nur die Berichte der Gerichtsmedizin finden Beachtung“

Innerhalb von zwei Monaten sind mindestens elf Gefangene in Haft ums Leben gekommen. Die Mehrheit von ihnen befand sich auf der Liste der schwer kranken Gefangenen des IHD. Im Rahmen der F-Sitzungen war ihre Situation Dutzende Male thematisiert und vor ihrem Tod gewarnt worden. Onaran spricht über den verstorbenen krebskranken Gefangenen Halil Güneş und sagt: „Halil Güneş befand sich seit 2012 auf der Liste der schwerkranken Gefangenen. Als er 1993 inhaftiert wurde, war er schwerer und intensiver Folter ausgesetzt. Seine Rippen wurden gebrochen. Es wurden damals Flecken auf seine Lunge festgestellt. Aus diesen Flecken wurde Krebs. Trotz aller Versuche wurde der Vollzug von Güneş’ Haft nicht ausgesetzt. Aufgrund des Hasses des Staates, von dem ich eben gesprochen habe, wurden bzw. werden Halil Güneş und die anderen schwer kranken Gefangenen nicht entlassen. Anstelle von Krankenhausberichten, die berücksichtigt werden sollten, werden ausschließlich die Berichte der Gerichtsmedizin (ATK) berücksichtigt. Obwohl Halil Güneş ein Haftunfähigkeitsattest des Krankenhauses hatte, wurde er aufgrund eines gegenteiligen Berichts der Gerichtsmedizin in Haft gehalten und er starb im Gefängnis. Heute befinden sich Mehmet Emin Özkan und Devrim Ayık in der gleichen Lage, warum werden sie nicht entlassen? Sie stehen vor dem Tod. Aber sie werden aufgrund von Entscheidungen der ATK, der Staatsanwaltschaft oder der Polizei nicht entlassen.“

Es muss ein Recht auf Abschied geben“

Insbesondere bei den todkranken Gefangenen müsse es ein Recht auf Abschied geben, sagt Onaran und nimmt den schwer kranken Gefangenen Koçer Özdal als Beispiel: „Koçer Özdal hatte Krebs, und die Krankheit hatte sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet. Er wurde dennoch mit Ketten an seinen Füßen und Handgelenken ans Bett gefesselt; obwohl er 20 bis 25 Tage auf der Intensivstation lag und nicht einmal Atmen konnte. Als er starb und die Leiche seiner Familie übergeben wurde, trug sie die Spuren der Ketten. Seine Ehefrau wird dieses Bild niemals vergessen können. Er hätte sich doch zumindest verabschieden können müssen. Er hätte seine letzten Tage in einer gewünschten Umgebung mit seiner Familie verbringen können müssen.“

Onaran weist darauf hin, dass auch gesunde Menschen aufgrund der Haftbedingungen schwer erkranken und die Situation von kranken Gefangenen noch dramatischer ist. Ohne ausreichende Behandlung kämen immer neue Krankheiten hinzu.

Sie wollen neue Imralis schaffen“

Mittlerweile werden kranke Gefangene wie Rûken Yılmaz immer wieder in die neuen S-Typ-Isolationsgefängnisse verlegt. Onaran beschreibt diese Gefängnisse als „letzter Punkt des Übels“. Sie weist darauf hin, dass Isolation eine weltweit verurteilte Foltermethode ist und dass die Anwendung von Isolation auf schwer kranke politische Gefangene ein noch größeres Verbrechen darstellt. Sie sagt: „Im ganzen Land will man neue Imrali-Gefängnisse errichten. Die F-Typ-Gefängnisse haben nicht gereicht, jetzt kommen sie mit dem S-Typ. Das ist äußerst gravierend. Die Menschen sind doch ohnehin eingesperrt. Was will man denn noch von ihnen?“

Allein in der Marmara-Region gibt es hundert schwer kranke Gefangene“

Allein in der Region Marmare gibt es 100 registrierte schwer kranke und 300 kranke Gefangene. Onaran berichtet über die Situation von einigen von ihnen: „In Metris befindet sich Ergin Aktaş, er ist einer der kranken Gefangenen in ernstem Zustand. Aktaş hat eine Behinderung und leidet an COPD. Sein Mitgefangener Serdal Yıldırım hat im unteren Rücken eine Platte. Er kann sich nur im Rollstuhl bewegen. Diese Platte bewegt sich. Er muss dringend operiert werden, aber das geht unter Gefängnisbedingungen nicht. Trotz aller öffentlichen Aufrufe werden diese beiden Gefangenen immer noch nicht freigelassen. Der in Silivri inhaftierte Cengiz Sinan Halis Çelik leidet an Blasenkrebs und Epilepsie. Als er inhaftiert wurde, wurde er massiv gefoltert, genau wie Halil Güneş. Wegen seiner schlecht zusammengewachsenen Rippen leidet er unter Luftnot. Cengiz wurde in der Zeit des Putsches vom 15. Juli im Haftkrankenhaus von Silivri von einem Gefangenen angegriffen und erhielt einen Stich in der Leistengegend. Deshalb war er lange bettlägerig. Aysel Tuğluks Zustand in Haft in Kocaeli wird immer schlimmer. Wir beschäftigen uns schon lange mit dem Herz und an Wernicke-Korsakoff erkrankten Gefangenen Abdullah Kalay. Sein Herz arbeitet nur zu 30 Prozent. Es gibt Ismail Yilmaz, der aufgrund einer Hirnblutung einen partiellen Schlaganfall erlitten und sich weiterhin in einem ernsten Zustand befindet. Es gibt auch Kemal Turanoğlu und Kemal Ertürk, die an der Wernicke-Korsakoff-Krankheit leiden. Recep Çitikbel hat eine aufgrund des Mangels an ständiger Behandlung fortscheitende Hirnkrankheit und ist pflegebedürftig und leidet auch an Schizophrenie.“

Die Familien haben eine große Aufgabe“

Onaran schließt mit den Worten: „Wir hier draußen sind ihre Stimme. Wenn von draußen nichts passiert, wird dieses Problem nicht gelöst. Insbesondere Familien müssen sensibler sein und alles in Telefonaten erfragen und nicht einfach nur ,Geht es dir gut‘ fragen. Sie müssen sich mit den Rechtsverletzungen beschäftigen und alles hinterfragen. Wenn sie etwas erfahren, müssen sie es den zuständigen Institutionen oder Anwält:innen melden und es an die Öffentlichkeit bringen. Es ist unmenschlich, kranke Gefangene unter diesen negativen Bedingungen, in denen sie sich befinden, allein zu lassen. Um weitere Fälle wie den von Halil Güneş zu vermeiden, müssen die kranken Gefangenen, insbesondere die Krebs- und chronisch Kranken, diejenigen, die kleine Kinder haben, und auch die schwangeren Frauen, sofort entlassen werden.“