Die Rechtsmedizin ist zu einer politischen Institution geworden

Am Fall der demenzerkrankten kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk wird deutlich, dass die Institution der Rechtsmedizin in der Türkei zu einer politischen Einrichtung geworden ist.

Ein von neun Fachärzt:innen erstelltes Gutachten der rechtsmedizinischen Fakultät der Universität Kocaeli stellt fest, dass Aysel Tuğluk aufgrund einer Demenzerkrankung haftunfähig ist. Das zuständige Institut für Rechtsmedizin sieht trotzdem keinen Grund für eine Aussetzung des Strafvollzugs.

In den Gefängnissen in der Türkei gibt es Hunderte Kranke, die nicht medizinisch behandelt werden. In den letzten Wochen sind mehrere Gefangene verstorben. Die ehemalige HDP-Abgeordnete Aysel Tuğluk ist seit fünf Jahren als politische Geisel in der Vollzugsanstalt Kandira inhaftiert. Ihr Rechtsanwalt Veysi Eski hat sich gegenüber ANF zur aktuellen Situation seiner Mandantin geäußert.

Rechtsanwalt Veysi Eski

Eski führt aus, dass Aysel Tuğluks Erkrankung einhergehend mit den Haftbedingungen durch den Angriff eines rassistischen Mobs auf die Beerdigung ihrer Mutter Hatun Tuğluk ausgelöst worden ist: „Ihr Zustand wird zunehmend schlechter. Das Universitätskrankenhaus Kocaeli hat nach einer langen Untersuchung eine Haftunfähigkeit attestiert. Das Institut für Rechtsmedizin in Istanbul eine gegenteilige Feststellung getroffen und eine Haftfähigkeit bescheinigt. Diese Bescheinigung macht deutlich, wie sehr das Institut zu einer politischen Einrichtung geworden ist.

Da Aysel Tuğluk lange Zeit nicht wollte, dass ihr Gesundheitszustand thematisiert wird, haben wir ihn als Anwaltsteam nicht öffentlich gemacht. Sie ist jedoch so schwer erkrankt, dass sie sich nicht mehr selbst versorgen kann. Daher ist eine erneute Begutachtung eingeleitet worden. Die Vollzugsleitung hat allerdings darauf bestanden, dass Aysel Tuğluk nach jeder Vorstellung im Krankenhaus für einen längeren Zeitraum in einer Einzelzelle bleiben muss. Dadurch ist viel Zeit verloren gegangen. Im Moment ist sie zusammen mit zwei Frauen in einer Zelle und es findet eine neue Begutachtung statt. Unabhängige Ärztinnen und Ärzte kritisieren natürlich den Widerspruch zwischen den beiden zuvor erstellten Gutachten. Wir denken, dass die Ärzte der Gerichtsmedizin ihre berufliche Ethik verletzen. Als Anwälte werden wir entsprechende Beschwerden einlegen.“

Für kranke Gefangene bedeutet das Vorgehen des rechtsmedizinischen Instituts Folter, sagt Rechtsanwalt Eski: „Ich bin der Meinung, dass die Öffentlichkeit diesem Thema mehr Aufmerksamkeit widmen muss. Das Institut für Rechtsmedizin muss von Anwaltskammern und der Ärztevereinigung (TTB) zu einem vordringlichen Thema gemacht werden. Als Rechtsorganisationen haben wir diese Angelegenheit diskutiert und beschlossen, die von der Rechtsmedizin verfassten Gutachten zu übersetzen und internationalen Einrichtungen vorzulegen. Wir werden auf internationaler Ebene beweisen, dass die Rechtsmedizin keine unabhängige Institution ist. Es kann nicht länger akzeptiert werden, dass die Rechtsmedizin das einzige Entscheidungsorgan bei Fällen kranker Gefangener ist. Wir gehen davon aus, dass die TTB eingreifen wird und diese Gutachten von unabhängigen Medizinern kontrollieren lässt.“