IHD: In Gefängnissen herrscht eine „Politik des Todes“

„Die Lage für kranke Gefangene ist dramatisch, dringend benötigte Behandlungen werden systematisch behindert oder verweigert. In den Haftanstalten herrscht de facto eine Politik des Todes“, sagt die Menschenrechtlerin Meral Nergis Şahin.

In der Türkei sind im ersten Quartal des Jahres dreizehn kranke Gefangene in Haft ums Leben gekommen. In den beiden Jahren zuvor starben binnen zwölf Monaten sogar mehr als fünfzig schwerkranke Gefangene hinter Gittern. Die Zahlen sind am Samstag auf der 496. „F-Sitzung“ der Gefängniskommission der Istanbuler Zweigestelle des Menschenrechtsvereins IHD vorgestellt worden. „Die Lage für kranke Gefangene ist dramatisch, dringend benötigte Behandlungen werden systematisch behindert oder verweigert. In den Haftanstalten herrscht de facto eine Politik des Todes“, fasste die Menschenrechtlerin Meral Nergis Şahin zusammen.

Laut den jüngsten Zahlen des IHD befinden sich derzeit 1.605 kranke Gefangene in türkischen Haftanstalten. Mindestens 604 von ihnen sind lebensbedrohlich krank, 249 davon sind Frauen. Şahin spricht von einer „grausamen Parallelwelt“ jenseits gültigen Rechts in den Gefängnissen, in denen das Recht auf Leben keine Gültigkeit mehr habe – insbesondere im Fall der politischen Gefangenen. Es mangele aber nicht nur an angemessenen Behandlungsmaßnahmen, sondern auch an Hygiene- und Ernährungsmöglichkeiten. Diese Situation stelle eine ernsthafte Bedrohung für das Recht auf Leben aller Gefangenen dar, zu deren Schutz der Staat verfassungsrechtlich als auch durch internationale Abkommen verpflichtet ist. Seit die AKP 2002 an die Macht gekommen ist, sind weit mehr als 2.500 Gefangene verstorben.

„Doch in einer Situation, in der Gefangene freigelassen werden müssten, um das Grundrecht auf Leben zu wahren, wird ihr Tod hinter Gittern bewusst einkalkuliert“, kritisiert Şahin. Dass jeder Mensch ohne Ausnahme das Recht auf lebensrettende Maßnahmen hat und diese Verantwortung bei der Regierung liegt, gelte in der Türkei aber nur für die wenigsten. Für kranke Gefangene, die aus politischen Motiven beziehungsweise unter sogenannten Terrorvorwürfen inhaftiert worden sind, erst recht nicht. Diese Mentalität spiegelt sich zuletzt im Fall von Mehmet Ali Çelebi wider. Der 70-Jährige saß fast drei Jahrzehnte im Gefängnis und litt unter anderem an Leukämie, Bluthochdruck, verminderter Sehfähigkeit infolge eines Schlaganfalls und Nierenschwäche. Jahrelang kämpften seine Angehörigen für seine Freilassung. Doch erst als es viel zu spät war, ordnete die türkische Justiz das vorzeitige Ende der Haft an. Zehn Tage später erlag Çelebi in einem Krankenhaus in Istanbul-Başakşehir einer schweren Krebserkrankung.

Meral Nergis Şahin befürchtet, dass Mehmet Emin Özkan ein ähnliches Schicksal erleiden dürfte. Seit 25 Jahren befindet sich der heute 83-jährige Kurde unschuldig hinter Gittern. Er leidet unter diversen Krankheiten, darunter fallen unter anderem ein Aneurysma im Gehirn, Bluthochdruck, eine Schilddrüsenerkrankung, eine Alzheimer-Demenz, die zu Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und Desorientierung führt, Gehörverlust, Atemschwäche und eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Sechs Herzattacken hat Özkan bislang überlebt, vier Mal musste er eine Herzkatheteruntersuchung über sich ergehen lassen. Dennoch wird er nicht entlassen. „Ali Osman Köse, Ergin Aktaş, Ekim Polat, Mehmet Yamaç, Fatma Tokmak, Süreyya Bulut, Dicle Bozan, Serdal Yıldırım, Kemal Gömi, Kemal Özelmalı – Namen einiger schwerkranker Gefangener, die aktuell dem Tod überlassen werden“, führte Şahin weiter aus. „Wir fordern, dass ihnen das Recht auf lebensrettende Maßnahmen und Gesundheit eingeräumt wird. Sie müssen freigelassen werden, ebenso müssen ältere Menschen, Frauen und Kleinkinder dringend freikommen. Die Öffentlichkeit ist gebeten, besonders sensibel auf den Umgang des Staates mit den kranken Gefangenen zu reagieren. Die Verantwortlichen werden aufgefordert, umgehend zu handeln und allen Gefängnisinsassen ihre Grundrechte einzuräumen.“