Erneute Prüfung der Haftfähigkeit im Fall Aysel Tuğluk

Im Fall der im Gefängnis an einer chronischen und fortschreitenden Alzheimer-Demenz erkrankten kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk soll es eine erneute Haftfähigkeitsprüfung durch das Institut für Rechtsmedizin geben.

Im Fall der im Gefängnis an Demenz erkrankten kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk steht eine erneute Prüfung der Haftfähigkeit bevor. Nach Angaben ihrer Verteidigerin Reyhan Yalçındağ ordnete ein zuständiges Gericht eine dreiwöchige Unterbringung im Institut für Rechtsmedizin (ATK) an. Es wird erwartet, dass Tuğluk in der bevorstehenden Woche in die Einrichtung in Istanbul verlegt wird. Zuvor waren mehrere Anträge beim Hohen Rat des ATK für eine nochmalige Haftfähigkeitsprüfung auf taube Ohren gestoßen.

„Die Entscheidung für eine weitere Untersuchung durch das ATK konnte nur durch öffentlichen Druck erwirkt werden“, erklärte Alaattin Tuğluk, Bruder der 56-jährigen Politikerin, und würdigte nationale wie internationale Initiativen für die Freilassung seiner Schwester. Es müsse eine faire Entscheidung gefällt werden, „bevor es zu einem Punkt kommt, an dem es kein Zurück mehr gibt“, sagte Tuğluk und warnte davor, dass sich die gesundheitliche Situation seiner Schwester mit jedem weiteren Tag im Gefängnis verschlechtere. „Aysel verliert ihr Sprachvermögen, vergisst kurz zuvor Gesagtes und ihre Motorik ist stark eingeschränkt. Physisch geht es ihr dagegen den Umständen entsprechend gut“, äußerte Alaattin Tuğluk.

Die Rechtsanwältin, ehemalige Parlamentsabgeordnete und stellvertretende HDP-Vorsitzende Aysel Tuğluk befindet sich seit Ende 2016 in Haft. In mehreren Verfahren wurde sie bereits verurteilt, andere Prozesse sind noch anhängig. Im Februar 2020 bestätigte der türkische Berufungsgerichtshof die bislang höchste Freiheitsstrafe gegen Tuğluk über zehn Jahre Haft. Verurteilt wurde sie aufgrund ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende des Graswurzelbündnisses „Demokratischer Gesellschaftskongress” (KCD) wegen „Leitung einer Terrororganisation“. Im Oktober vergangenen Jahres verhängte ein Gericht in Wan eine zwanzigmonatige Freiheitsstrafe wegen angeblicher PKK-Propaganda in den Jahren 2012 und 2013. Im sogenannten Kobanê-Prozess in Ankara droht Aysel Tuğluk zudem eine erschwerte lebenslange Freiheitsstrafe.

Rechtsmedizin als politische Insititution: Das ATK

Im vergangenen März stellte ein von neun Fachleuten erstelltes Gutachten der forensischen Abteilung der Universität Kocaeli fest, dass Aysel Tuğluk aufgrund einer chronischen und fortschreitenden Alzheimer-Demenz nicht länger haftfähig ist und sofort aus dem Gefängnis zu entlassen sei. Das zuständige ATK, eine Einrichtung des Justizministeriums, hat eine gegenteilige Feststellung getroffen und sah bisher keinen Grund für eine Aussetzung des Strafvollzugs. Selbst auf eine im Rahmen des Kobanê-Prozesses Ende Oktober gerichtlich angeordnete Haftfähigkeitsprüfung reagierte das Institut für Rechtsmedizin lange Zeit nicht. Im Dezember stellte Reyhan Yalçındağ daraufhin einen Antrag auf ein drittes Gutachten, dem stattgegeben wurde. Im staatlichen Krankenhaus von Kocaeli-İzmit wurde ein Ausschuss eingerichtet und der Zustand von Aysel Tuğluk erneut untersucht. Aufgrund der Ergebnisse dieses Berichts sah sich das ATK nun offenbar gezwungen, eine eingehende Prüfung der Haftfähigkeit Tuğluks nicht länger zu verweigern.