„F-Sitzung“ fordert Strafaussetzung für Aysel Tuğluk

Die IHD-Gefängniskommission fordert eine Strafaussetzung für Aysel Tuğluk. Die kurdische Politikerin ist im Gefängnis an Demenz erkrankt und kann sich nicht mehr eigenständig versorgen. Trotz festgestellter Haftunfähigkeit wird sie nicht entlassen.

Die Gefängniskommission der Istanbuler Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD hat die Aussetzung des Restes der Haftstrafen der kurdischen Politikerin Aysel Tuğluk gefordert. Die an Demenz erkrankte Gefangene könne sich nicht mehr selbst versorgen und sei vollständig auf die Hilfe ihrer Mitgefangenen angewiesen, erklärte der Rechtsanwalt Davut Arslan bei der „F-Sitzung“ des IHD. Die inzwischen 501. Woche initiiert die Gefängniskommission des IHD die Sitzung, die ihren Namen in Anlehnung an das türkische Isolationshaftsystem Typ F erhielt, um auf die Situation von kranken Gefangenen aufmerksam zu machen.

Aysel Tuğluk befindet sich seit dem 28. Dezember 2016 im Gefängnis von Kandıra in der westtürkischen Provinz Kocaeli. In mehreren Verfahren wurde die Rechtsanwältin, die unter anderem auch Abdullah Öcalan vertrat, bereits verurteilt, andere Prozesse sind noch anhängig. Im Februar 2020 bestätigte der türkische Berufungsgerichtshof die bislang höchste Freiheitsstrafe gegen Tuğluk über zehn Jahre Haft. Verurteilt wurde die 56-Jährige aufgrund ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende des Graswurzelbündnisses „Demokratischer Gesellschaftskongress” (KCD) wegen „Leitung einer Terrororganisation“. Mitte Oktober folgte ein Urteil über zwanzig Monate Freiheitsstrafe gegen die frühere Parlamentsabgeordnete wegen vermeintlicher Terrorpropaganda in den Jahren 2012 und 2013. Im sogenannten Kobanê-Prozess in Ankara droht ihr eine erschwerte lebenslange Haftstrafe.

Aysel Tuğluk (l.), Figen Yüksekdağ (m.) und Sebahat Tuncel im Juni 2018 im Gefängnis Kandıra

„Aysel Tuğluks gesamtes politisches Leben war geprägt von Herausforderungen, denen sie bravourös standhalten konnte. Doch den Umgang mit ihrer verstorbenen Mutter hat sie nicht verkraften können“, sagte Arslan. Im September 2017 löste ein Angriff eines türkischen Mobs auf die Beerdigung von Hatun Tuğluk weltweit Empörung aus. Hunderte Rassisten und Nationalisten hatten in Ankara die Beerdigung mit Steinen attackiert und Hassparolen gegen Armenier:innen und Alevit:innen gerufen. Die sterblichen Überreste von Aysel Tuğluks Mutter mussten daraufhin exhumiert werden, weil der Mob angedroht hatte, die Leiche zu schänden. Wenige Tage später wurde Tuğluk in Dersim beigesetzt. Ihre Tochter durfte sich nicht verabschieden. Die Gefängnisleitung hatte ihr keine zweite Sondererlaubnis erteilt.

Feindstrafrecht gegen Frauenbefreiungsideologie

„Traumatische Erlebnisse können eine wesentliche Ursache für das Entstehen von Demenz sein. Das sagt die Schulmedizin. Die Abteilung für Gerichtsmedizin an der medizinischen Fakultät der Universität Kocaeli hat bei Aysel Tuğluk bereits vor einiger Zeit eine Haftunfähigkeit festgestellt und eine dringende Entlassung empfohlen. Doch entsprechende Entlassungsanträge werden von der zuständigen Oberstaatsanwaltschaft entgegen der Rechtslage negativ beschieden“, kritisiert Rechtsanwalt Davut Arslan. Der Ko-Sprecher des Istanbuler Provinzverbands der HDP-Schwesterpartei DBP, Mustafa Mesut Tetik, bezeichnete den Umgang der türkischen Justiz mit Aysel Tuğluk als „Feindstrafrecht“. In der Person der Politikerin sollten die kurdische Befreiungsbewegung und im Besonderen die Anhängerinnen der Frauenbefreiungsideologie „abgestraft“ werden. Tetik fordert die zuständigen Behörden und Ministerien auf, ihren Pflichten entsprechend zu handeln und Aysel Tuğluk sowie alle anderen haftunfähigen Gefangenen umgehend freizulassen. An die Öffentlichkeit appelliert Tetik, besonders sensibel auf den Umgang des Staates mit den kranken Gefangenen zu reagieren.