Eziden in Şengal: Wir lassen uns von der Türkei nicht vertreiben

Die Angriffe der Türkei auf Şengal werden von den Ezid*innen als Fortsetzung des Genozids und gezielte Vertreibungspolitik im Sinne der neo-osmanischen Expansionspolitik betrachtet. An Aufgabe der Heimat denke aber niemand, sagen sie.

Als die Türkei in der Nacht zum 15. Juni am Jahrestag des „Sayfo“ – dem Genozid an den Suryoye vor 105 Jahren im Osmanischen Reich – einen weiteren völkerrechtswidrigen Akt der Aggression im Sinne ihres Expansionskrieges setzte und eine Luftlande- und Bodeninvasion im kurdischen Autonomiegebiet des nördlichen Irak einleitete, bombardierten Kampfjets und Drohnen neben vermuteten Stellungen in den von der Guerilla kontrollierten Medya-Verteidigungsgebieten auch das unter UN-Schutz stehende Flüchtlingslager Mexmûr (Machmur) südwestlich von Hewlêr (Erbil) sowie das ezidische Hauptsiedlungsgebiet Şengal, darunter auch Çilmêra, der höchste Gipfel des Şengal-Gebirges, wo sich unweit auch ein ezidisches Flüchtlingslager befindet. Offiziell bezweckten die Bombardierungen ziviler Siedlungsräume die „Neutralisierung von Terrornestern zum Schutz der eigenen Grenzen und Bevölkerung“. Es habe jüngst mehr und mehr Angriffsversuche von dort aus auf militärische Außenposten und Stützpunkte im Grenzgebiet gegeben, behauptet Ankara. Hauptsächlich richte sich der Einsatz gegen die PKK, aber auch gegen andere „Terrorgruppen“ in der Region. Bei den Angriffen auf Şengal sind sechs Verteidigungsposten der YBŞ/YJŞ getroffen worden, vier ihrer Kämpfer*innen wurden verletzt. Ein Blick auf die Landkarte genügt übrigens um zu erkennen, dass weder Şengal noch das Camp Mexmûr, das beiläufig bemerkt seit knapp einem Jahr auf Betreiben der Erdoğan-Regierung einem strengen Embargo unterliegt und somit von der Außenwelt abgeschnitten ist, an der Grenze zur Türkei liegen.

Rückkehr von Genozid-Überlebenden wird erschwert

„Welche sogenannten Terrorgruppen sollen das überhaupt sein?“, will Şivan Mûrad von der Ezidischen Demokratie- und Freiheitspartei (kurd. Partiya Azadî û Demokrasiyê ya Êzidiyan, PADÊ) wissen. Wir haben mit ihm und seinem Parteigenossen Elî Brahîm sowie Seydo Elî, Mitglied im Volksrat von Sinûnê, über die Angriffe der Türkei auf Şengal gesprochen, welche nur einen Tag nach der Rückkehr von rund 150 Ezid*innen erfolgten, die 2014 den IS-Überfall auf Şengal überlebten. Die ezidische Gemeinschaft wertet die Bombardierungen daher auch als Teil eines türkischen Plans, die Rückkehr von geflüchteten Genozid-Überlebenden zu erschweren.

 

„Die Angriffe gehen jedoch nicht nur auf die Kappe der Türkei“, sagt Mûrad. Ein solches Unterfangen im Alleingang sei gar nicht möglich, vielmehr handele es sich um einen multilateralen und von internationalen Kräften abgesegneten politischen Plan, der Ankara ermögliche, hunderte Kilometer tief in irakisches Territorium einzudringen. Die ezidische Bevölkerung solle mit den Luftangriffen eingeschüchtert werden, damit sie ihr Kerngebiet im Nordwesten des Landes im Sinne der neo-osmanischen Expansionsbestrebungen der Türkei aufgibt. Mit dieser Art der „Vertreibungspolitik“ seien die Ezid*innen aber traurigerweise bestens betraut, da sie nicht nur die Türkei oder der IS verfolgten. Sie sei charakteristisch für alle „Herrschenden“ der Region, die über die Jahrhunderte mindestens 74 Genozide an den Ezid*innen verübten. „Wir werden dafür bestraft, weil wir uns nicht vertreiben lassen wollen“, sagt Mûrad. „Aber auch wenn nur noch ein*e von uns übrigbleibt, werden wir uns der Aggression und Unterdrückung des türkischen Staates und seiner Söldner widersetzen. Es ist schließlich unsere Heimat.“

Selbstverteidigungseinheiten rekrutieren sich aus eigener Bevölkerung

Die PKK betreibt weder in Mexmûr noch in Şengal Stellungen. Beide Regionen werden von Selbstverteidigungseinheiten geschützt, die 2014 als Reaktion auf die Angriffe des sogenannten IS („Islamischer Staat“) mit Unterstützung der kurdischen Guerillaorganisationen HPG und YJA-Star geschaffen wurden, nachdem diese die Bevölkerung gegen den IS verteidigten, und sich aus der eigenen Bevölkerung rekrutieren. Die Dschihadistenmiliz wurde zwar im Frühjahr 2019 militärisch weitgehend besiegt, die vom IS ausgehende Gefahr ist aber noch lange nicht gebannt. Weder in Mexmûr, wo erst im Februar dieses Jahres ein massiver Angriffsversuch von IS-Zellen, die sich auf dem direkt hinter dem Flüchtlingslager liegenden Berg Qereçox verschanzt haben, nur Dank einer herbeigeeilten HPG-Einheit zurückgeschlagen werden konnte, noch in Şengal, wo es trotz einer breitangelegten gemeinsamen Operation der irakischen Armee, Hashd-al-Shaabi und den ezidischen Widerstandseinheiten YBŞ/YJŞ im letzten Sommer ebenfalls noch immer zu IS-Angriffen kommt. Die letzten Guerillaeinheiten haben sich bereits vor über zwei Jahren aus Şengal zurückgezogen. Die offizielle Darstellung der türkischen Regierung für die Angriffe in Südkurdistan suggeriert, dass das legitime Selbstverteidigungsrecht der angestammten Bevölkerung von Şengal oder den Bewohner*innen Mexmûrs gegen den in Vernichtungsabsicht begangenen Terror des IS mit militärischen Mitteln im Sinne der „Selbstverteidigung“ bekämpft werden müsste, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Sind womöglich Außenposten des IS gemeint, die aus Şengal und Mexmûr angegriffen worden sein sollen? Oder handelt es sich bei den Bewohner*innen um Ortsfremde, die mit der Macht ihrer Waffen ein Gebiet kontrollieren, das es zu befreien gilt? Wirft da etwa die Luftwaffe des IS Bomben auf Şengal und Mexmûr ab? Ist die Nato im Dschihad? 

Angriffe der Türkei Fortsetzung der Massaker gegen Eziden

„Die Angriffe der Türkei auf Şengal bedeuten im Grunde nichts anderes als eine Fortsetzung der Massaker, die an unserem Volk begangen wurden“, sagt Seydo Elî von der autonomen Kommune Sinûnê. Dass die irakische Zentralregierung in Bagdad und die PDK-geführte kurdische Regionalregierung das Vorgehen der Türkei nicht in aller Schärfe verurteilten, sondern Vertreibungen der Ezid*innen durch türkische Truppen begünstigten, statt zu verhindern, sei ein Armutszeugnis. „Diese Ignoranz ist auch ein Hinweis darauf, dass die Angriffe auf uns unter Billigung beider Regierungen stattfinden“, meint Elî. Man sollte aber nicht vergessen, dass Widerstandskultur zum historischen Erbe der Ezid*innen gehört: „Schließlich hat Widerstand bei uns Tradition, die wir natürlich auch bei den aktuellen Angriffen wahren werden, um zu überleben. Unsere Heimat verlassen werden wir ganz bestimmt nicht.“  

Eziden sollen auf Eigenstärke vertrauen

Der Lokalpolitiker von PADÊ, Elî Brahîm, sagt, der türkische Staat versuche gezielt, die öffentliche Wahrnehmung der Situation in Şengal zu manipulieren, um die Rückkehr der geflüchteten Ezid*innen zu verhindern. So wolle das Erdoğan-Regime seine Vertreibungspolitik legitimieren. „Unserem Volk soll mit den Angriffen quasi Angst eingejagt werden. Wir Eziden haben uns aber seit dem Ferman am 3. August 2014 verändert, sind nicht mehr die alten. Wir haben auf Grundlage einer tiefgreifenden Ideologie und Philosophie unsere Selbstorganisierung etabliert. Eben deshalb werden wir an der Seite unserer Verteidigungseinheiten YBŞ/YJŞ gegen diese Angriffe Widerstand leisten.“ So wie es den „Feinden des kurdischen Volkes“ bereits in der Vergangenheit nicht gelang, die kurdische Existenz „auszulöschen“, werde es auch Erdoğan und seinen „Komplizen“ nicht gelingen, den Willen des Volkes zu brechen, sagt Brahîm. Und fügt hinzu: „Unser Volk sollte auf seine Eigenstärke vertrauen. Wir besitzen die Kraft, den türkischen Staat und seine Kollaborateure zu bezwingen.“