Seit dem 17. Juli steht das selbstverwaltete Flüchtlingscamp Mexmûr im gleichnamigen südkurdischen Distrikt im Dreieck Mosul-Kerkûk-Hewlêr unter einem Embargo. Die Verantwortlichen der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), Regierungspartei der Autonomieregion Kurdistans (KRG), nahmen die Ermordung des türkischen Geheimdienstverantwortlichen Osman Köse am 17. Juli in Hewlêr (Erbil) zum Vorwand, um gegen das Lager ein umfassendes Embargo zu verhängen. Das Alltagsleben der rund 12.000 Einwohner*innen wird dadurch schwer beeinträchtigt. Die Zufahrtswege für Fahrzeuge in das Camp sind gesperrt. Studierende können nicht an ihre Universitäten fahren; einige von ihnen haben bereits ihren Studienplatz verloren. Dasselbe gilt auch für Schüler*innen, die Schulen außerhalb des Camps besuchen. Hinzu kommt, dass viele Menschen aus dem Camp eigentlich außerhalb von Mexmûr einer Beschäftigung nachgehen. Unter dem Embargo ist auch dies nicht mehr möglich, wodurch viele Familien unter schwerwiegenden wirtschaftlichen Einbußen leiden. Das Embargo hatte bereits auch tödliche Folgen. Zwei schwangere Frauen, die wegen Komplikationen zur Entbindung in ein Krankenhaus nach Hewlêr hätten gebracht werden müssen, wurde der Ausgang aus dem Camp verwehrt. Beide Frauen verloren in der Folge ihr Kind. Anfang Oktober verstarb ein fünf Monate altes Baby aufgrund von Atem- und Herzproblemen. Ärzte betonten, der Tod des Mädchens wäre vermeidbar gewesen, wenn es rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht worden wäre.
Die südkurdischen Sicherheitsbehörden machen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für das Attentat an Osman Köse verantwortlich und kriminalisieren das gesamte Camp. Kurz nach dem Anschlag war es zu einer Reihe von Razzien und Festnahmen gekommen, bei denen zahlreiche Bewohner*innen des Lagers von der PDK-Polizei festgenommen wurden, darunter auch 16 junge Frauen. Die PKK hat jegliche Mittäterschaft an dem Anschlag dementiert.
HRW: PKK-Sympathie keine Legitimation für Beschränkungen
Die Organisation Human Rights Watch (HRW) hat sich gegen das Embargo des selbstverwalteten Camps ausgesprochen und kritisiert, dass die Beschränkungen der Flüchtlinge rein willkürlich seien. „Behörden können nicht einfach jeden in einem Lager bestrafen, weil einige der dort lebenden Menschen der PKK wohlwollend gegenüberstehen und es keine Beweise dafür gibt, dass sie ein Verbrechen begangen haben”, sagte Sarah Leah Whitson, Nahost-Direktorin von HRW. „Diese willkürlichen Beschränkungen hindern die Bewohner des Lagers daran, ihre Arbeitsstelle zu erreichen und blockieren ihren Zugang zu Gesundheitsversorgung”, so Whitson.
Das Camp Mexmûr liegt etwa 60 Kilometer südwestlich von Hewlêr und beherbergt Menschen, die in den 1990er Jahren aufgrund der Repression des türkischen Staates gezwungen waren, ihre Dörfer in Nordkurdistan zu verlassen. Nach langen Fluchtwegen und Aufenthalten in verschiedenen Camps gründeten sie 1998 das Flüchtlingslager Mexmûr. Offiziell steht es unter dem Schutz der Vereinten Nationen (UN) sowie der südkurdischen Autonomieregierung und der irakischen Zentralregierung in Bagdad. Allerdings wird es immer wieder zum Ziel von Angriffen der türkischen Armee. Zuletzt bombardierten türkische Kampfflugzeuge in der Nacht zum 19. Juli das Camp. Zu Toten kam es bei dem Angriff nicht, zwei Personen wurden allerdings leicht verletzt.
KRG: „Beschränkungen für einzelne zum Schutz aller Personen“
Dindar Zebari, Koordinator für internationale Interessenvertretung der südkurdischen Autonomieregierung, räumte auf Anfrage von Human Rights Watch „vorübergehende Einschränkungen“ für die Bewohner*innen Mexmûrs aufgrund von „Sicherheitsproblemen“ um zum Schutz „aller“ ein. Zebari behauptete, die Maßnahme betreffe nicht Personen, die außerhalb des Camps einer Arbeit nachgehen, studieren oder in einem Krankenhaus behandelt werden müssen und dies mit entsprechenden Dokumenten nachweisen. HRW befragte daraufhin Camp-Bewohner*innen, die entgegengesetzte Angaben machten. Die Organisation fordert die Autonomieregierung auf, ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen. „Die Gesetze sehen vor, dass jede Person in der KRG das Recht hat, seinen Wohnort frei zu wählen und sich frei zu bewegen. Nach dem Völkerrecht darf die Freiheit von Personen – Staatsangehörigen oder Ausländern – nur eingeschränkt werden, wenn die Beschränkung ‚gesetzlich vorgesehen‘ und zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Gesundheit oder der Rechte und Freiheiten anderer erforderlich ist. Darüber hinaus dürfen diese Beschränkungen nicht diskriminierend sein und müssen in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck der Beschränkung stehen.“
Whitson sagte außerdem, dass es nicht nötig sein sollte, dass Mütter ihre Babys verlieren, damit die KRK erkennt, dass diese Einschränkungen „unverhältnismäßig“ sind. Es sei schockierend, dass die Behörden das Embargo trotz Todesfällen nicht aufgehoben haben.