„Wir sind Überlebende, Kämpfer, Kulturträger:innen“

„Wir sind mehr als nur Opfer – wir sind Überlebende, Kämpfer, Kulturträger:innen“ sagt der ezidische Autor und Genozid-Überlebende Farhad Alsilo im Interview mit ANF.

Der ezidische Autor und Überlebende Farhad Alsilo

Farhad Alsilo wurde 2002 in der Stadt Şengal geboren. Er erlebte und überlebte den Genozid-Feminizid an der ezidischen Bevölkerung durch die Terrormiliz des selbsternannten Islamischen Staates (IS) und kam mit zwölf Jahren im Rahmen eines Sonderkontingents für Ezid:innen nach Deutschland. Seine traumatischen Erlebnisse hat er 2021 in dem Buch „Der Tag, an dem meine Kindheit endete“ veröffentlicht.

Mit nur elf Jahren musste Alsilo zusehen, wie der IS seinen Vater tötete und seine Schwestern verschleppte. Im Interview mit ANF macht der heute 23-Jährige deutlich, wie zentral Aufarbeitung, Anerkennung und Aufklärung für die ezidische Gemeinschaft sind. Farhad Alsilo fordert politische und rechtliche Konsequenzen aus dem Völkermord von 2014, dauerhaften Schutz für Geflüchtete, mehr Bildung über ezidische Geschichte und Kultur – und internationale Solidarität für eine Zukunft in Würde und Sicherheit.

Welche Verantwortung sehen Sie als ezidischer Autor und Aktivist für die Sichtbarkeit Ihrer Gemeinschaft?

Ich sehe es als meine Pflicht, die Stimmen meiner Gemeinschaft hörbar zu machen – besonders jene, die verstummt sind. Als Überlebender des Völkermords von 2014 trage ich nicht nur mein eigenes Schicksal, sondern auch das vieler, die keine Möglichkeit hatten, ihre Geschichte zu erzählen. Durch meine Worte, mein Engagement und meine Sichtbarkeit möchte ich dem ezidischen Volk ein Gesicht geben – und deutlich machen, dass wir mehr sind als nur Opfer: Wir sind Überlebende, Kämpfer:innen, Kulturträger:innen.

Wie wichtig ist die Erinnerungsarbeit an den Völkermord von 2014 für Sie und die ezidische Gemeinschaft?

Erinnerung ist für uns überlebenswichtig. Ohne das Erinnern an 2014 verlieren wir nicht nur unsere Geschichte, sondern auch unsere Identität. Für uns Ezid:innen ist es eine Wunde, die nie heilen wird – aber wir entscheiden selbst, ob sie nur schmerzt oder auch Zeugnis ablegt. Erinnerungsarbeit bedeutet, dass die Welt nie wieder sagen kann: „Wir haben es nicht gewusst.“ Und dass sich so etwas nie wiederholt.

Linkes Bild: Farhad Alsilo als Kind im Irak. Rechtes Bild: Farhad Alsilo in seinen ersten Tagen in Deutschland.


Welche konkreten Schritte fordern Sie gegen das Vergessen des Genozids – etwa von der Bundesregierung?

Ich fordere kontinuierliche Anerkennung – nicht nur symbolisch, sondern auch politisch und rechtlich. Der Völkermord an den Ezid:innen muss in den Schulunterricht, in Gedenkstätten und in politische Entscheidungsprozesse integriert werden. Deutschland sollte ein dauerhaftes Bleiberecht für ezidische Geflüchtete schaffen – denn aktuell erleben wir, dass selbst Überlebende abgeschoben werden. Das ist ein Akt der Kälte gegenüber Menschen, die bereits das Schlimmste erlebt haben. Wir brauchen Schutz, Bildungschancen, Zugang zu Traumatherapie – und eine klare Haltung gegen religiösen Hass.

Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage der Ezid:innen im Irak und weltweit?

Die Lage ist weiterhin sehr instabil. Viele Ezid:innen leben noch immer in Camps, ohne Perspektive. Unsere Dörfer sind nicht sicher, unser Kulturerbe ist bedroht, Bildung fehlt, und unsere politische Stimme ist schwach. International fehlt oft das Verständnis für unsere Situation – dabei brauchen wir dringend mehr Schutz, Beteiligung und Solidarität auf globaler Ebene.

Wie sehen Sie den ezidischen Glauben und das Kulturerbe – was sollten Außenstehende über die Ezid:innen wissen?

Ezidentum ist eine friedliche, naturverbundene und uralte Religion. Wir glauben an das Gute, an Mitmenschlichkeit und an die Heiligkeit des Lebens. Viele wissen nicht, dass unser Glaube vor allem durch mündliche Überlieferung, Rituale und Lieder weitergegeben wurde. Unser Tempel Lalish ist ein spirituelles Zentrum für uns – er steht für Hoffnung, für Licht. Wer uns verstehen will, muss sehen, wie viel wir trotz aller Verfolgung bewahrt haben.

Was sind Ihre nächsten Ziele – beruflich und als ezidischer Aktivist?

Ich studiere Maschinenbau im vierten Semester. Technik fasziniert mich – aber ich sehe darin auch eine Möglichkeit, meiner Gemeinschaft später ganz praktisch zu helfen. Als Aktivist möchte ich weiter Bücher schreiben, Reden halten und Netzwerke knüpfen – besonders mit anderen jungen Ezid:innen. Ich will zeigen: Auch wenn wir am Abgrund standen, können wir neue Wege bauen. Mittlerweile ist Engagement ein fester Teil meines Lebens.

Wie können junge Ezid:innen ermutigt werden, ihre Geschichten zu teilen und sich politisch zu engagieren?

Sie müssen sehen, dass ihre Stimme zählt. Dass unsere Geschichte nicht zu Ende ist – sie wird jetzt von uns selbst geschrieben. Ich sage immer: Sprich, solange du kannst. Schreib, auch wenn es schmerzt. Wir brauchen Mut, Bildung, Vorbilder – und Räume, in denen unsere Identität nicht als „anders“, sondern als wertvoll gesehen wird.

Welchen Rat haben Sie an deutsche Institutionen, damit sie Ezid:innen besser unterstützen – etwa in Aufnahmeprogrammen, Bildung oder Gedenkkultur?

Hören Sie uns zu. Schaffen Sie sichere Orte für Ezid:innen – in Schulen, bei Behörden, in den Medien. Bildung ist der Schlüssel: Lehrkräfte sollten über unsere Geschichte informiert sein, Gedenkkultur sollte nicht abstrakt bleiben. Und bitte: Verhindern Sie Abschiebungen von Ezid:innen, besonders von Überlebenden. Das ist keine Einzelfrage – es ist eine Frage von Menschlichkeit und Verantwortung.

Bilder © privat, Farhad Alsilo