„Kunst muss den Frieden sichtbar machen“
Mit dem Aufruf zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft hat der inhaftierte kurdische Vordenker Abdullah Öcalan Ende Februar einen neuen politischen Prozess angestoßen. Der Vorschlag zur Lösung der kurdischen Frage wird nicht nur in der Türkei, sondern auch international diskutiert und unterstützt. Die in Amed (tr. Diyarbakır) ansässige Initiative „Kunst für die Freiheit“ sieht in Kunst und Kultur eine Schlüsselrolle für die gesellschaftliche Verankerung dieses Prozesses.
Lisa Çalan, Bühnenbildnerin, Filmemacherin und Mitbegründerin der Initiative, betont die Bedeutung von Kunst in diesem Kontext: „Kunst hat das Potenzial, gesellschaftliche Prozesse zu begleiten und mitzugestalten. Wenn es darum geht, Frieden in der Gesellschaft zu verankern, tragen wir als Kunstschaffende eine große Verantwortung.“ In Debatten innerhalb der Initiative werde insbesondere darüber gesprochen, wie ein demokratisches Gemeinwesen aufgebaut werden könne – und welche Rolle Kunst bei der Vermittlung dieser Ideen spiele.
Kunst im Schatten des Krieges
Çalan sieht die kurdische Kunst tief geprägt vom jahrzehntelangen Krieg. „Es ist schwierig, über Frieden zu sprechen, wenn man ihn nie erfahren hat“, sagt sie. „In unseren Filmen und Werken spiegelt sich vor allem der Schmerz des Krieges. In Kurdistan findest du kaum Motive, die Frieden thematisieren.“ In vielen Fällen habe sich Kunst als Überlebensstrategie verstanden, als Ausdruck von Widerstand – nicht als Vision eines künftigen Miteinanders.
Lisa Çalan © MA
Die Werke kurdischer Kunstschaffender thematisierten zumeist Krieg, Grenzen, Unterdrückung, Armut, Frauen- und Kinderrechte. „Unsere Kunst ist ein Ausdruck von Erinnerung und Widerstand. Wir nennen das ‚widerständige Kunst’ – vor allem im Bereich des kurdischen Films“, erklärt Çalan. Doch gerade dieser Fokus zeige auch das Ausmaß der Zerstörung durch den Krieg: „Dass wir Frieden bisher nicht künstlerisch verarbeitet haben, ist ein Spiegel dieser kollektiven Wunde.“
„Frieden mit Kunst erzählen“
Angesichts des neuen politischen Moments fordert Lisa Çalan einen Wandel: „Wir müssen Frieden in der Kunst erzählen. Aber dafür braucht es Struktur, Vernetzung, Organisation.“ Das Wort „Frieden“ selbst sei in den letzten zehn Jahren in der Türkei zunehmend kriminalisiert worden – ein Effekt, der sich auch im kulturellen Bereich niederschlage. „Viele Menschen haben sich nicht einmal mehr getraut, das Wort auszusprechen. Das muss sich ändern.“
Ein erster Schritt sei die Konfrontation mit der eigenen Geschichte – auch auf Seiten der türkischen Gesellschaft, betont Çalan. „Erst durch diese Auseinandersetzung kann ein neues gemeinsames Narrativ entstehen. Dann kann Kunst auch wieder ein Ort werden, an dem Frieden beginnt.“
Die Initiative „Kunst für die Freiheit“ will den Dialog über Frieden, Gesellschaft und kulturelle Verantwortung weiter vorantreiben. Çalan ist überzeugt: „Kunst kann Räume schaffen, in denen sich Menschen begegnen – jenseits von Gewalt, jenseits der Spaltung.“
Über Lisa Çalan
Lisa Çalan wurde 1987 in Amed als Tochter einer Familie mit elf Kindern geboren. Ihre Kindheit war geprägt von der staatlichen Unterdrückung der kurdischen Gesellschaft in der Türkei. Nach dem Abitur weigerte sie sich, eine türkische Universität zu besuchen, weil sie ihre Ausbildung in ihrer Muttersprache Kurdisch einforderte. Stattdessen studierte sie Film an dem 2010 von der damaligen Stadtverwaltung Ameds gegründeten „Aram-Tigran-Konservatorium“. Die Einrichtung konnte sich nur sechs Jahre behaupten. Mit dem ersten „Schlag gegen die kurdische Kommunalpolitik“ wurde das Konservatorium 2016 von der Zwangsverwaltung geschlossen.
Während der zwei Jahre, die sie am Konservatorium verbrachte, kam Lisa Çalan den Geschichten Kurdistans näher und ihre Perspektive verschob sich auf den Kampf der kurdischen Frauen. Sie ließ sich von den Dörfern und Städten, die sie besuchte, inspirieren und begann, an politischen Dokumentarfilmen über Kriegsereignisse und die Zwangsvertreibung der kurdischen Bevölkerung mitzuwirken. Später arbeitete sie bei der Film-Akademie Amed und nahm mit den dort entstandenen Projekten an diversen Festivals teil.
Am 5. Juni 2015, nur zwei Tage vor den Parlamentswahlen in der Türkei, explodierte in Amed auf dem Bahnhofsplatz inmitten einer Großkundgebung der HDP eine Bombe eines Attentäters einer polizeibekannten Zelle der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Die Kundgebung hatte genau wie der Wahlkampf der HDP unter dem Motto „Für die große Menschheit“ gestanden – eine Maxime, die die Vielfalt der Gesellschaft der Türkei reflektiert. Fünf Menschen starben bei dem Sprengstoffanschlag, hunderte weitere Personen wurden verletzt, sechzehn von ihnen schwer. Lisa Çalan war eine von ihnen. Sie verlor bei dem Anschlag beide Beine.