Öffnung eines neuen politischen Horizonts
Im Zuge des 12. Kongresses der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der vom 5. bis 7. Mai in den Medya-Verteidigungsgebieten stattfand, reflektierte Kongressdelegierter Şiyar Amed (Nurettin Demirtaş) die gegenwärtige Phase der kurdischen Befreiungsbewegung unter dem Gesichtspunkt einer tiefgreifenden narrativen Wende. In einer symbolischen und ästhetisch aufgeladenen Rede analysierte er die aktuelle Entwicklung als „eine neue Phase der Verwirklichung“, in der sich neue politische Türen und visionäre Horizonte öffneten.
Narrative Neugestaltung als politische Strategie
Şiyar Amed eröffnete seine Rede mit einem Rückblick auf das ideelle Erbe zentraler kurdischer Führungspersönlichkeiten wie Ali Haydar Kaytan, Rıza Altun und Sakine „Sara“ Cansız und würdigte den PKK-Begründer Abdullah Öcalan als Akteur einer historischen Wende. Er betonte, das Wirken des kurdischen Vordenkers habe eine „fundamentale narrative Transformation“ bewirkt – was in der literarischen Theorie als „Veränderung des Schicksals einer Erzählung“ beschrieben werden könnte. Amed formuliert dazu: „Rêber Apo hat viele Geschichten verändert – er hat das Schicksal eines Volkes und der Menschheit gewandelt.“
Diese Perspektive verorte Öcalan nicht nur als politischen Theoretiker, sondern als „Gestalter des Narrativen“ im Sinne eines transformativen Autors der kollektiven Erinnerung. Amed verwies auf Öcalans Bezugnahmen auf mythologische und literarische Stoffe, insbesondere auf Hektor und das Gilgamesch-Epos, und interpretierte diese als Versuche, bestehende historische Deutungsmuster zu dekonstruieren und neu zu rahmen.
Die Idee des Wesenskerns
Ein zentrales Motiv in Şiyar Ameds Rede war die Idee, dass wahre Transformation auf die Freilegung des Wesens ziele – eine Idee, die er anhand einer künstlerischen Allegorie illustrierte: Zwei Bildhauer bearbeiten jeweils einen Stein, wobei der eine eine perfekte Kopie, der andere eine lebendige, energetische Skulptur erschafft. Letzterer habe, so Amed, „das Innere des Steins freigelegt“ – und genau darin erkennt er auch das Wesen von Öcalans politischer und geistiger Arbeit: „Rêber Apo hat immer das Wesen freigelegt – das ist wahre Kunst.“
Diese Metapher stehe laut Amed exemplarisch für die Wende vom Formalismus zur Substanz. Die von Öcalan eingeleitete neue Phase sei eine „praktische Öffnung“, in der ideologische Tiefe mit konkretem Handeln zusammengeführt werden müsse.
Transformation als zyklischer Erneuerungsmoment
Zum Abschluss bediente sich Amed einer weiteren Allegorie, diesmal aus dem Tierreich: Der Zyklus der Erneuerung eines alternden Adlers, der unter Schmerzen Schnabel und Flügel verliert, um mit neuer Kraft zurückzukehren, stehe für einen bewussten Übergang in eine Phase tiefer Selbstveränderung: „Wir treten in eine Phase ein, in der wir mit neuer Würde und Kraft wiedergeboren werden.“
Dabei betonte er, dass dieser Prozess nicht als Rückzug, sondern als schöpferische Selbstüberwindung zu verstehen sei. Die anstehende Phase verlange Selbstkritik, Erneuerung und ein vertieftes Verständnis der eigenen Praxis: „Jetzt eröffnet sich ein Horizont, in dem wir unsere Liebe, unsere Bindung und unser Verständnis in Praxis überführen können.“