Öcalan an Jineolojî-Akademie: Mein unvollendetes Projekt ist nun abgeschlossen

In einem Brief an die Jineolojî-Akademie äußert sich PKK-Gründer Abdullah Öcalan zur Bedeutung der Frauenfrage in seiner politischen und theoretischen Arbeit. Er bezeichnet seine jahrelange Auseinandersetzung mit der Thematik als abgeschlossenes Projekt.

Symbolisches Geschenk: im Gefängnishof gezogener Farn

Der seit 1999 in der Türkei inhaftierte kurdische Vordenker Abdullah Öcalan hat in einem Brief an die Jineolojî-Akademie erklärt, seine langjährige theoretische Arbeit zur Frauenbefreiung als abgeschlossen zu betrachten. Das Schreiben, datiert auf den 30. Mai und verfasst auf der Gefängnisinsel Imrali, wurde am Montag veröffentlicht.

„Als ich zum ersten Mal nach Imrali gebracht wurde, sagte ich: Meine Arbeit zur Frauenfrage ist ein unvollendetes Projekt. Heute kann ich sagen: Dieses Projekt ist nun abgeschlossen – nun geht es darum, es umzusetzen“, heißt es in dem Brief. Öcalan betont, die Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau in Gesellschaft, Geschichte und politischer Theorie habe ihn seit seiner Kindheit begleitet.

„Frau als Maßstab des Sozialismus“

Öcalan stellt in seinem Schreiben die Frauenfrage als zentrales Kriterium für die ethische und politische Qualität sozialistischer Bewegungen heraus. „Ein Mann kann sich nur dann als Sozialist bezeichnen, wenn er in der Lage ist, richtig mit Frauen zu leben“, schreibt er. Klassische sozialistische Führungsfiguren – von Marx über Stalin und Mao bis Lenin – hätten in dieser Hinsicht zentrale Aspekte vernachlässigt.

Die von ihm mitentwickelte Disziplin der Jineolojî, der kurdischen Frauenwissenschaften, sei ein zentraler Bestandteil seiner theoretischen Arbeit. Sie solle dazu beitragen, „den Dolch im Rücken der Gesellschaft“, wie er die Unterdrückung von Frauen nennt, zu entfernen. Ohne eine Überwindung der „weiblichen Sklaverei“ lasse sich kein gesellschaftliches Problem lösen.

Bezug auf feministische Denktraditionen

Öcalan bezieht sich mehrfach auf feministische Denkerinnen wie Simone de Beauvoir und Virginia Woolf. Die Konstruktion der Geschlechterrollen müsse kritisch dekonstruiert werden: „Die weibliche Identität muss losgelöst von patriarchalen Zuschreibungen neu gedacht und aufgebaut werden“, so Öcalan. Frauen sollten „einen eigenen Raum“ schaffen, um sich intellektuell und gesellschaftlich selbst zu definieren.

Der kurdische Theoretiker beschreibt seine Rolle als Mann in dieser Auseinandersetzung selbstkritisch: „Feministinnen fragen sich zu Recht, warum ein Mann an der Spitze der kurdischen Frauenbewegung steht. Ich wünschte, es wäre anders gekommen.“ Er habe stets versucht, sich ethisch und intellektuell an einer „Ästhetik der Freiheit“ zu orientieren, und strebe danach, „ein Sohn zu sein, der der Würde der Göttinnen gerecht wird“.

Frauen als Trägerinnen des demokratischen Wandels

Abschließend äußert Öcalan seine Überzeugung, dass Frauen eine führende Rolle im angestrebten „Prozess von Frieden und Demokratie“ übernehmen werden: „Sie sind bereits heute Trägerinnen eines Großteils der bisherigen Erfolge. Ich glaube daran, dass sie auch die kommenden Entwicklungen maßgeblich gestalten werden.“ Öcalan schickte außerdem als Geschenk einen Farn, den er im Hof des Imrali-Gefängnisses gezogen hatte.