Das letzte Drittel des Jahres 2023 stand im Zeichen des Widerstands: Trotz Krieg, Repression und Staatsterror haben die kurdische Freiheitsbewegung und die kurdische Gesellschaft deutlich gemacht, dass sie nicht zurückweichen. Im letzten Teil des Jahresrückblicks werfen Civaka Azad und Voices from Kurdistan einen Blick auf die Monate September bis Dezember 2023.
September 2023
Ein Jahr nach der Ermordung von Jina Mahsa Amini
Die „Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution war die größte Protestwelle, die die Islamische Republik Iran seit ihrer Gründung 1979 erlebt hat. Auslöser war der staatliche Femizid an Jina Mahsa Amini. Die 22-jährige Kurdin aus Seqiz starb am 16. September 2022 in einem Krankenhaus der iranischen Hauptstadt Teheran. Zuvor war sie von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen und auf einer Polizeistation misshandelt worden. Die von Frauen angeführten Aufstände, die sich von Rojhilat, dem östlichen Teil Kurdistans, auf den gesamten Iran ausbreiteten, haben eine unumkehrbare Revolution in den Köpfen der Menschen ausgelöst.
Ab dem 16. September 2022 wurde „Jin, Jiyan, Azadî“ zur Losung eines landesweiten Volksaufstandes für Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit, der den Weg für die Befreiung der iranischen Bevölkerung von der Diktatur der Islamischen Republik hin zur Überwindung der religiösen Herrschaft und aller Strukturen der Ausbeutung und Ungerechtigkeit wies. Der Slogan, der diesen Widerstand weit über die Grenzen des Iran hinaus getragen hat, hat seinen Ursprung in der kurdischen Freiheitsbewegung und ihrem Repräsentanten Abdullah Öcalan. Im Zuge dieses Aufstandes entfaltete sich um diesen Slogan herum eine beeindruckende Solidarität unter den unterdrückten Völkern im Iran und darüber hinaus.
Das Regime in Teheran reagierte mit grausamer Gewalt auf die landesweiten Aufstände. Besonders mörderisch ging es gegen Demonstrant:innen in den belutschischen und kurdischen Landesteilen vor. Allein bis Februar 2023 wurden laut Menschenrechtsorganisationen 527 Demonstrant:innen getötet und mehr als 19.600 verhaftet. Am ersten Todestag von Jina Mahsa Amini kam es in Rojhilat und im Iran zu zahlreichen Verhaftungen. Auch Jinas Vater wurde vorübergehend von den Revolutionsgarden festgenommen. Die Familie wollte an ihrem Grab eine Gedenkfeier abhalten.
Welche langfristigen Folgen die „Jina-Revolution“ für das iranische Regime und die iranische Gesellschaft haben wird, ist auch ein Jahr nach Beginn der Aufstände schwer abzuschätzen. Die entstandene Bewegung hat sich nicht nur monatelang gegen ein brutales Regime gewehrt, sondern auch ihre eigene gesellschaftliche Kraft erfahren und damit die Angst vor den Machthabern in Teheran verloren.
Oktober 2023
Beginn der Kampagne „Freiheit für Öcalan – Lösung der kurdischen Frage!“
Am 10. Oktober des vergangenen Jahres gab die internationale Kampagne „Freiheit für Öcalan und eine politische Lösung der kurdischen Frage!“ ihren Startschuss. Zeitgleich wurden an insgesamt 74 Orten in Europa, Bangladesch, Pakistan, Tokio, Indien, Kenia, Südafrika, Lateinamerika und anderswo Presseerklärungen zu diesem Thema abgegeben. Die Zahl 74 stand für das Alter Abdullah Öcalans. An der weltweiten Kampagne sind Akademiker:innen, Journalist:innen, NGOs, politische Parteien, Parlamentarier:innen, Aktivist:innen, Philosoph:innen, Nobelpreisträger:innen, Frauenorganisationen und Vertreter:innen indigener Völker beteiligt. Die Kampagne fordert den sofortigen Zugang von Anwält:innen und Familienangehörigen zu dem seit 1999 inhaftierten kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan und schließlich seine Freilassung unter Bedingungen, die es ihm ermöglichen, eine Rolle bei der Suche nach einer politischen Lösung der kurdischen Frage zu spielen.
In der zweiten Etappe der Kampagne fanden in der zweiten Dezemberwoche weltweit rund 150 Veranstaltungen anlässlich des „Global Öcalan Books Day!“ statt. Das Motto des Aktionstages lautete „Gedanken, die Gefängnisgitter durchbrechen - Ideen kann man nicht einsperren!“ Mit Lesungen, Kundgebungen, Diskussionsveranstaltungen und anderen Aktionsformaten wurden die Ideen und Konzepte des seit 1999 inhaftierten kurdischen Repräsentanten der Öffentlichkeit vorgestellt.
Neue Eskalationsstufe: Türkische Drohnen- und Luftangriffe in Nordsyrien
Am 1. Oktober 2023 ereignete sich ein Anschlag mitten im Regierungsviertel von Ankara. Das zentrale Hauptquartier der Volksverteidigungskräfte (Navenda Parastina Gel) bekannte sich zu der Aktion. Der Anschlag sei als ausdrückliche Warnung an die türkische Regierung zu verstehen. Der türkische Staat schuf kurz nach der Aktion ein Lügenkonstrukt über den Tathergang, um seine Angriffe auf die kurdische Bevölkerung zu intensivieren. Zunächst kam es im ganzen Land zu Razzien und Festnahmen gegen kurdische Aktivist:innen, anschließend intensivierte der türkische Staat seine Luftangriffe gegen die Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Der türkische Außenminister Hakan Fidan hatte zuvor, ohne Beweise vorzulegen, behauptet, die Angreifer seien über Syrien in die Türkei eingedrungen. Es folgten schwere Angriffe auf die Infrastruktur der gesamten Region der selbstverwalteten Gebiete Nordsyriens.
Die Angriffe verursachten nicht nur materielle Schäden und einen teilweisen Zusammenbruch der Elektrizitätsversorgung für mehrere Millionen Menschen, die in der Region leben. Sie richteten sich auch direkt gegen die Bevölkerung im Norden und Osten Syriens. So starben allein bei dem Angriff vom 9. Oktober auf eine Akademie der inneren Sicherheitskräfte (Asayîş) in der Nähe von Dêrik 29 Männer im Alter zwischen 20 und 46 Jahren. Die am 4. Oktober gestartete mehrtägige Luftangriffsserie in der Türkei kostete laut dem Rojava Information Center 48 Menschen, darunter neun Zivilist:innen, das Leben. Weitere 47 Personen, darunter 15 Zivilist:innen, wurden verletzt. Insgesamt führte der türkische Staat 25 Angriffe mit Kampfflugzeugen und 64 Drohnenangriffe durch und griff Ölfelder, Kraftwerke, Wasserwerke, ein Krankenhaus, Gasförderanlagen und Industrieanlagen an. Die zahlreichen Aufrufe der politischen Vertreter:innen der Selbstverwaltung an die internationale Staatengemeinschaft nach einem Ende der völkerrechtswidrigen und kriegsverbrecherischen Angriffe des türkischen Staates blieben hingegen ungehört.
November 2023
PKK-Verbot aufheben und Demokratie stärken!
Am 26. November des vergangenen Jahres hat sich das PKK-Betätigungsverbot in Deutschland zum 30. Mal gejährt. Hausdurchsuchungen, Observierungen, Abschiebungen und Verurteilungen zu langjährigen Haftstrafen sind nur die Spitze des Eisbergs, wenn man Teil der kurdischen Community in Deutschland ist. Bei allen politischen, kulturellen und sozialen Aktivitäten werden Kurdinnen und Kurden immer wieder unter den Generalverdacht der sogenannten „PKK-Nähe“ gestellt. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Geflohen. Verboten. Ausgeschlossen“ dokumentieren die Autor:innen Kerem Schamberger, Monika Morres und Alexander Glasner-Hummel anschaulich, welche gravierenden Auswirkungen dieses Verbot für die kurdische Community in Deutschland hat.
Die Kampagne „Verbot aufheben!“ hat im vergangenen Jahr über einen Monat hinweg die Öffentlichkeit über die Auswirkungen dieses Betätigungsverbots informiert und gegen die Kriminalisierung der Kurd:innen in Deutschland mobilisiert. Über den gesamten November verteilt fanden 66 Vorträge und Diskussionsveranstaltungen sowie zwölf Demonstrationen und andere Formen des öffentlichen Protests statt. Den Höhepunkt der Kampagne hat die bundesweite Demonstration mit mehreren tausend Demonstrant:innen am 18. November in Berlin dargestellt.
Am Tag der Großdemonstration versuchte die Polizei immer wieder durch unverhältnismäßige Maßnahmen und provokative Eingriffe in die Demonstration Bilder von „gewaltbereiten Kurden“ zu produzieren, um die Verbotspolitik der Bundesregierung zu rechtfertigen. Die Demonstrationsteilnehmer:innen zeigten an diesem Tag allerdings ein äußerst besonnenes Auftreten und ließen sich nicht provozieren. Am Tag nach der Demonstration machte der kurdische Dachverband KON-MED deutlich, dass der politische Kampf gegen das PKK-Verbot weitergehen wird und erklärte: „Die Provokationen der deutschen Polizei gegen die Menschen, die sich in den frühen Morgenstunden auf dem bekannten Berliner Oranienplatz versammelt hatten, haben ihr Ziel nicht erreicht. Wir verurteilen die Zusammenarbeit mit dem türkischen Regime, das den Krieg im Nahen Osten anheizt, Massaker in Kurdistan verübt und die IS-Banden organisiert. Mit dem PKK-Verbot setzt der deutsche Staat die Wünsche des türkischen Staates um. Der deutsche Staat sollte sich von diesem Fehler abwenden, auf die gerechten Forderungen des kurdischen Volkes hören und seine Kriminalisierungspolitik aufgeben.“
Kurdische Geflüchtete in Deutschland und die Ignoranz der deutschen Behörden
Die bundesdeutsche Politik gegenüber den Kurd:innen hatte im vergangenen Jahr wenig mit Demokratie, Grundrechten und Friedensabsichten zu tun. Neben den Repressionen und Stigmatisierungen, die Kurd:innen in Deutschland aufgrund des PKK-Verbots und der anhaltenden wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung des türkischen Staates und seines Krieges in Kurdistan erfahren, zeigte sich dies auch im Umgang mit kurdischen Geflüchteten in Deutschland.
Von Januar bis November 2023 haben 55.354 Menschen aus der Türkei hier einen Antrag auf Asyl gestellt. Lediglich aus Syrien kamen im selben Zeitraum noch mehr Geflüchtete nach Deutschland. Die Mehrheit der Geflüchteten aus der Türkei ist kurdischer Herkunft. Bis Oktober dieses Jahres waren es rund 85 Prozent. Doch laut Pro Asyl ist die Anerkennungsquote für Kurd:innen aus der Türkei besonders niedrig. Im Schnitt lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwei von drei Anträgen von Kurd:innen ab. Dabei wird keine andere gesellschaftliche Gruppe in der Türkei so stark verfolgt und unterdrückt wie die Kurd:innen.
Doch auch wenn sie in Deutschland angekommen sind, scheint die Sicherheit der Kurd:innen hierzulande alles andere als gesichert zu sein. Im November 2023 erschütterte der Fall Hogir Alay nicht nur die kurdische Community in Deutschland. Am 4. November wurde seine verweste Leiche hinter der Turnhalle des Geflüchtetencamps im rheinland-pfälzischen Kusel erhängt aufgefunden. Die Aufnahmestelle wollte den Fall als „Selbstmord“ zu den Akten legen. Doch Hogirs Geschichte zeigte schnell, dass hier organisierte Verantwortungslosigkeit und rassistische Schikane durch das Sicherheitspersonal zusammenkamen. Die Zweifel an der Selbstmordthese von Hogir Alay sind bis heute nicht ausgeräumt.
Ein weiterer erschreckender Vorfall mit kurdischen Geflüchteten ereignete sich Ende November im Berliner „Ankunftszentrum“ Tegel. Hier haben IS-Sympathisanten die kurdischen Bewohner:innen des Camps unter Schlachtrufen angegriffen. „Wir schneiden allen Kurden die Köpfe ab“, soll einer gerufen haben. Eine schwangere Kurdin habe durch den Schock ihr Kind verloren, berichteten Betroffene. Auch der Sicherheitsdienst des Camps soll in die Angriffe verwickelt gewesen sein und Kurd:innen bedroht haben. Nur durch das Eingreifen der kurdischen Community in Berlin und weiterer solidarischer Kreise konnte ein größeres Ausmaß der Ereignisse verhindert werden.
Dezember 2023
Neuer Gesellschaftsvertrag für Nord- und Ostsyrien und kein Ende der türkischen Angriffe
Am 12. Dezember letzten Jahres hat die Generalversammlung der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens den Entwurf der Großen Versammlung der Verfassungskommission für einen neuen Gesellschaftsvertrag ratifiziert. Die PYD-Politikerin Foza Yûsif war an der Ausarbeitung des Entwurfs beteiligt und erläutert die Intention des neuen Gesellschaftsvertrags wie folgt: „Unser wesentliches Ziel ist es, eine demokratische, freiheitliche und ökologische Gesellschaft zu schaffen. Der Hauptgrund für die derzeitige Krise in Syrien ist das Fehlen einer demokratischen Verfassung, die alle Völker und Rechte einbezieht. Wir wollen ein Beispiel für die Lösung aller Probleme in Syrien geben. Der Gesellschaftsvertrag soll eine Grundlage für die Schaffung einer demokratischen Verfassung sein, die die Rechte der syrischen Bevölkerung garantiert.“
Der neue Gesellschaftsvertrag zielt nicht nur auf den Schutz aller gesellschaftlichen Komponenten Nord- und Ostsyriens ab, sondern will auch Neuerungen in den Bereichen Wirtschaft, Bildung und Gesundheit durchsetzen. Der Gesellschaftsvertrag kann in deutscher Übersetzung auf der Website der Nord- und Ostsyrienvertretung in Deutschland gelesen werden.
Kurz vor Weihnachten startete der türkische Staat eine erneute Luftoffensive gegen die Selbstverwaltungsgebiete in Nord- und Ostsyrien. Die türkische Luftwaffe griff mit Drohnen und Kampfflugzeugen Energieversorgungseinrichtungen, Ölraffinerien, Tankstellen, Industrieanlagen, Handelsbetriebe, einen Bahnhof, ein Krankenhaus und zahlreiche Dörfer an. Zwei weitere Drohnenangriffe trafen die medizinische Infrastruktur in Qamişlo. Ein Dialysezentrum und eine Abfüllanlage für medizinischen Sauerstoff wurden getroffen. Beide Einrichtungen befanden sich auf dem Gelände des örtlichen Covid-Krankenhauses. Die Angriffe forderten erneut mehrere Todesopfer.
Diesmal rechtfertigte der türkische Staat seine Angriffe als Vergeltung für die schweren militärischen Verluste, die seine Armee in den Kämpfen gegen die kurdische Guerilla der HPG und YJA Star in Südkurdistan (Nordirak) erlitten hatte. Denn obwohl die türkische Armee seit einem Jahr versucht, die kurdischen Guerillaeinheiten in diesen Gebieten zu zerschlagen und dabei auch international geächtete chemische Kampfstoffe und permanente Luftangriffe einsetzt, scheinen die jüngsten Verluste zu belegen, dass ihr Vorgehen nicht von Erfolg gekrönt ist. Das Vorgehen des türkischen Staates zum Ende des vergangenen Jahres in Nord- und Ostsyrien wird von türkischen Regierungsvertretern zwar als Vergeltungsmaßnahme dargestellt. Es handelt sich jedoch offensichtlich um Kriegsverbrechen an der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens.
Auch wenn der Krieg in Kurdistan im letzten Jahr sehr intensiv war, haben der gesellschaftliche Widerstand und der Kampf für Freiheit und Gleichheit zu keinem Zeitpunkt an Entschlossenheit verloren. Im Gegenteil, der Widerstand in Kurdistan hat auch die Nachbarvölker erreicht und ob in Rojhilat und Iran, in Rojava und Syrien oder in anderen Teilen des Nahen und Mittleren Ostens, es entstehen gesellschaftliche Bündnisse über ethnische und religiöse Grenzen hinweg. Der gemeinsame Kampf für eine freie, demokratische und selbstbestimmte Gesellschaft könnte im neuen Jahr nicht nur in Kurdistan und im Nahen Osten die Antwort auf die drängenden Probleme unserer Zeit sein.