Der Kurdistan-Jahresrückblick 2023: Ein Jahr im Zeichen des Kriegs und Widerstands II

Das zweite Drittel des Jahres 2023 begann mit großer Ernüchterung. Der Wahlsieg von Erdoğans Regierungsblock ließ die Hoffnungen auf eine kurzfristige Entspannung der politischen Atmosphäre schwinden.

Das zweite Drittel des Jahres 2023 begann mit großer Ernüchterung. Der Wahlsieg von Erdoğans Regierungsblock ließ die Hoffnungen auf eine kurzfristige Entspannung der politischen Atmosphäre schwinden. Doch auch in diesem Zeitabschnitt machten die Kurd:innen deutlich, dass sie ein zentraler politischer Akteur in der Politik des Mittleren Ostens sind. In diesem Teil des Jahresrückblicks werfen Civaka Azad und Voices from Kurdistan einen Blick auf die Monate Mai bis August 2023.

Mai 2023

Erdoğans nationalistisch-islamistisches Bündnis entscheidet Wahlen

Nicht nur die Menschen innerhalb der türkischen Grenzen fieberten diesem Tag entgegen: Am 14. Mai fanden in der Türkei gleichzeitig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Allen war klar, dass der Ausgang dieser Wahlen großen Einfluss auf die Zukunft der gesamten Region haben würde. Doch nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse machte sich Ernüchterung breit. Erdoğans reaktionäres Bündnis - ein Zusammenschluss verschiedener nationalistischer und islamistischer Parteien - konnte die Parlamentswahlen klar für sich entscheiden. Die Grüne Linkspartei, die anstelle der vom Verbot bedrohten HDP an den Wahlen teilnahm, konnte zwar trotz aller Repressionen ein beachtliches Ergebnis erzielen, verlor aber ebenfalls Stimmenanteile im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2018. Insgesamt enttäuschte die Opposition, insbesondere das Wahlbündnis um Erdoğans Gegenkandidaten Kemal Kılıçdaroğlu. Ein kleiner Hoffnungsschimmer blieb zunächst erhalten: Erdoğan verfehlte bei den Präsidentschaftswahlen knapp die erforderliche absolute Mehrheit von 50 Prozent und musste in die Stichwahl gegen Kılıçdaroğlu. Diese Wahl zwei Wochen später konnte Erdoğan schließlich für sich entscheiden.

Nach der Bekanntgabe seines Wahlsieges präsentierten sich Erdoğan und seine Verbündeten gemeinsam in Siegerpose vor dem Präsidentenpalast. Um den alten und neuen Staatspräsidenten scharten sich vor allem Männer, die entweder rechtsextreme und/oder islamistische Parteien führen. Alle, die auf einen demokratischen Wandel im Land gehofft hatten, mussten sich nun der Realität stellen, dass diese Männer gemeinsam mit Erdoğan und seiner AKP das Land in den nächsten fünf Jahren regieren würden. Schnell wurde klar, dass die neue Legislaturperiode nationalistischer, islamistischer und vor allem autoritärer werden würde als die letzte. Dass die Wähler:innen in Nordkurdistan zwei Mal klar gegen Erdoğan stimmten, änderte nichts am Endergebnis. Die Kurd:innen innerhalb und außerhalb der türkischen Staatsgrenzen mussten sich auf harte Zeiten vorbereiten.

Juni 2023

Kurdische Politikerinnen in Nordsyrien/Rojava durch die Türkei ermordet

Im gesamten Jahr 2023 hat die Türkei den Norden und Osten Syriens 798-mal angegriffen. In mindestens 103 Fällen wurden den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) zufolge Kampfflugzeuge und Drohnen eingesetzt. Gerade der türkische Drohnenterror in der Region ist im vergangenen Jahr zum Dauerzustand geworden – und richtet sich immer wieder gezielt gegen die Vorkämpferinnen des kurdischen Frauenbefreiungskampfes. Den Auftakt dieses international ignorierten Luftkrieges der Türkei hatte im Juni 2020 die Ermordung von Zehra Berkel, Hebûn Mele Xelîl und Amina Waysî in Kobanê gemacht, drei Vertreterinnen des Frauendachverbands Kongra Star. Es folgten gezielte Drohnenattentate auf Kommandantinnen der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), etwa Sosin Bîrhat oder Jiyan Tolhildan, Roj Xabûr und Barîn Botan. Drei Jahre nach Beginn des Drohnenkrieges fand ein weiterer grausamer Angriff des türkischen Staates auf die Frauenrevolution in Nord- und Ostsyrien statt: die kurdische Politikerin und Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung des Kantons Qamişlo, Yusra Derwêş, sowie ihre Stellvertreterin Lîman Şiwêş wurden am 20. Juni 2023 getötet.

100 Jahre nach dem Vertrag von Lausanne

Am 24. Juli 1923 wurde der Vertrag von Lausanne unterzeichnet und damit die Vierteilung Kurdistans besiegelt. Seit 100 Jahren sind die Siedlungsgebiete der Kurd:innen auf die vier Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien aufgeteilt. Dieser Vertrag bildet gewissermaßen den Abschluss der Neuaufteilung des Nahen Ostens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Zwar konnte die Türkei mit ihrem Erfolg im „Unabhängigkeitskrieg“ die zuvor im Vertrag von Sèvres festgelegten Grenzen nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches teilweise nach ihren Vorstellungen revidieren. Doch maßgeblich verantwortlich für den Inhalt des Vertrags von Lausanne waren die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, allen voran Großbritannien und Frankreich.

Damit sind die europäischen Akteure mitverantwortlich für das Leid, das den Kurd:innen in den letzten einhundert Jahren widerfahren ist. Denn die Aufteilung der kurdischen Siedlungsgebiete auf vier Staaten war kein Missverständnis oder Fehler der Siegermächte, sondern bewusst in die Planungen einbezogen.

Im Jahr 2023 jährte sich der Vertrag von Lausanne zum 100. Mal. Anlässlich dieses Datums versammelten sich kurdische Vertreter:innen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und politischer Parteien im Kongresszentrum Beaulieu in Lausanne. Über 600 Delegierte aus allen Teilen Kurdistans machten deutlich, dass sie den Vertrag von Lausanne auch nach einem Jahrhundert ablehnen. Dieses Zusammenkommen hatte nicht nur eine symbolische Bedeutung: Vor 100 Jahren hatten am selben Ort Vertreter verschiedener Mächte über das Schicksal der Kurd:innen entschieden. Im Juli 2023 versammelten sich hier nun Vertreter:innen der kurdischen Bevölkerung, um deutlich zu machen, dass sie nicht mehr andere über ihr Schicksal entscheiden lassen. Mit den Beschlüssen der Konferenz wurde der Grundstein für ein gemeinsames Handeln und Auftreten der kurdischen Parteien gelegt.

August 2023

Die Türkei setzt den Genozid von Şengal fort

Im August 2023 jährte sich der der Genozid und Femizid an der ezidischen Gemeinschaft in Şengal (Sindschar) im Nordirak zum neunten Mal. Die traumatischen Bilder, die am 3. August 2014 nach dem kampflosen Einmarsch des selbsternannten IS in die Region um die Welt gingen, haben sich in das kollektive Gedächtnis der kurdischen Gemeinschaft und unzähliger Menschen weltweit eingebrannt. Männer wurden ermordet, Jungen als Kindersoldaten missbraucht, Frauen und Mädchen vergewaltigt und als Sklavinnen verschleppt. Mehr als 2.500 Menschen gelten bis heute als vermisst. Am Jahrestag des Völkermordes gedachten Menschen auf der ganzen Welt der Opfer. Auch in Deutschland fanden zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt.

Auch wenn mittlerweile viele Länder den Genozid an den Ezid:innen als solchen anerkannt haben, kann die Bevölkerung bis heute nicht in Sicherheit leben. Insbesondere die regelmäßigen Angriffe des türkischen Staates in Şengal werden von vielen Betroffenen als eine Form der Fortsetzung des IS-Genozids wahrgenommen. Seit 2017 bombardiert der NATO-Staat regelmäßig die traumatisierten Bewohner:innen des letzten zusammenhängenden Siedlungsgebiets der Ezidinnen und Eziden. Die deutsche Bundesregierung schweigt zu den Angriffen, ebenso wie alle anderen Staaten, die den Völkermord anerkannt haben. Die Türkei behauptet, Ziele der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Şengal zu bombardieren. Die PKK gehörte gemeinsam mit Kämpfer:innen der nordsyrischen YPG und YPJ zu den Akteur:innen, die kurz nach dem Vormarsch des IS intervenierten und ein noch größeres Ausmaß des Genozids verhinderten. Doch es ist nicht die PKK, die in Şengal von der Türkei angegriffen wird, sondern es sind die lokalen ezidischen Verteidigungskräfte, die Aktivist:innen der Selbstverwaltungsstrukturen und ezidische Würdenträger:innen. Laut einer Statistik, die vom britischen Politikmagazin „The New Statesman“ im Jahr 2021 veröffentlicht wurde, handelt es sich bei 60 Prozent der Opfer türkischer Angriffe in Şengal um Zivilist:innen. Im August 2021 bombardierten türkische Drohnen sogar ein Krankenhaus in der Region und ermordeten acht Menschen, darunter auch Krankenhauspersonal.

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Kriegshandlungen stellten die ezidischen Verbände klare Forderungen auch an die Bundesregierung: Wenn die Anerkennung des Völkermordes in Şengal nicht nur ein symbolischer Akt bleiben soll, müssen die Angriffe des türkischen NATO-Partners in der Region gestoppt und die Selbstverwaltung von Şengal als solche anerkannt werden.

Im dritten Teil des Jahresrückblicks werfen Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. und die Macherinnen des Blogs Voices from Kurdistan einen Blick zurück auf die Monate September bis Dezember 2023.


Titelfoto: Wahlkampfveranstaltung der YSP in Amed (tr. Diyarbakır), Aufschrift auf dem Transparent: „Ihr könnt uns nicht aufhalten“