Seit rund fünf Monaten sitzen die kurdischen Journalisten Abdurrahman Gök und Mehmet Şah Oruç in einem Hochsicherheitsgefängnis in Amed (tr. Diyarbakır) in Untersuchungshaft – wegen des dringenden Verdachts der Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Dort werden sie vorerst auch bleiben. Die türkische Justiz lehnte zum Verfahrensauftakt einen Antrag auf Aufhebung der Haftbefehle ab. Begründung: Es bestünde Fluchtgefahr, da das erwartete Strafmaß „sehr hoch“ sei. Beiden Journalisten drohen bis zu zwei Jahrzehnte Gefängnis.
Mehmet Şah Oruç und Abdurrahman Gök, die für die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) arbeiten, sind zwei von vier kurdischen Medienschaffenden, die Ende April unter „Terror“-Vorwürfen verhaftet worden waren. Dem vorausgegangen war eine landesweite Operation gegen die kurdische Opposition und Zivilgesellschaft, in deren Verlauf rund 200 Menschen festgenommen wurden, darunter ranghohe Funktionäre und Mitglieder der Grünen Linkspartei (YSP) und der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Presseleute, Anwältinnen und Anwälte sowie Aktive aus Kunst und Kultur. Mehr als sechzig Personen wurden in der Folge wegen Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK verhaftet und damit nur wenige Wochen vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr gezogen.
Abdurrahman Gök
Die Leitung der Festnahmeoperation lag formell bei der Oberstaatsanwaltschaft Diyarbakır, wurde jedoch vom türkischen Innenministerium angeordnet. Die Anschuldigungen gegen die verhafteten Presseleute basieren im Wesentlichen auf den Behauptungen von Ümit Akbıyık – ein früherer HDP-Aktivist, der, um vom türkischen Reuegesetz zu profitieren, sich als Kronzeuge für die türkische Antiterrorpolizei betätigt und bereits in diversen Prozessen gegen Oppositionelle aufgetreten ist – sie würden „auf Anweisung des Pressekomitees der PKK/KCK“ arbeiten. Mit KCK ist die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans gemeint, die als Dachverband der kurdischen Bewegung fungiert und dem auch die PKK angehört. Sowohl Gök als auch Oruç lehnen den Vorwurf ab und sind der Ansicht, dass ihre journalistische Arbeit kriminalisiert wird.
Von einer Inkriminierung von Journalismus sprach auch Göks Verteidiger Resul Temur bei der Prozesseröffnung vor der 5. Großen Strafkammer Diyarbakır. Der Jurist zählte die Titel diverser Texte auf, die von Gök verfasst wurden und in der Anklage als Beweismittel aufgeführt seien. Dabei gehe es unter anderem um Rezensionen von Büchern, etwa „Devran“ und „Leylan“ aus der Feder des inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, Artikel über Opfer der türkischen Antiterrorgesetze und eine Videodokumentation über den Kampf gegen den IS in Kobanê. Außerdem verwende die Staatsanwaltschaft die Zahlung von Versicherungsbeiträgen durch Göks Arbeitgeber als Beweis für eine angebliche PKK-Mitgliedschaft und lasse die Agentur MA als illegales Unternehmen erscheinen. „Es ist kein einziger Beweis da. Es gibt nur eine von der Polizei zusammengestellte Datensammlung. Hier sitzt eindeutig kurdischer Journalismus auf der Anklagebank“, sagte Temur und forderte die Aufhebung des Haftbefehls.
Gök selbst äußerte, dass ähnlich lautende „Terror“-Vorwürfe auch in anderen Verfahren, die derzeit noch anhängig oder bereits abgeschlossen sind, gegen ihn erhoben wurden. Dies empfinde er als Racheakt an seiner Person. „Die türkische Polizei will offenbar Vergeltung für meine Fotos von Kemal Kurkut. Seit 2017 versucht man stur, mich für lange Zeit wegsperren zu lassen.“ Vor einer Verurteilung fürchte er sich jedoch nicht. „Selbst einem Prozess, bei dem bis zu 22 Jahre Knast gegen mich gefordert worden waren, habe ich mich nicht durch Flucht entzogen. Ob drinnen oder draußen; meinen Beruf werde ich weiterhin ausüben.“
Kemal Kurkut war ein kurdischer Kunststudent, der im März 2017 am Rande einer Newroz-Feier in Amed von einem Polizisten erschossen worden war. Türkische Sicherheitsbehörden hatten umgehend behauptet, der 23-Jährige sei ein Attentäter gewesen, der die Feierlichkeiten hätte stürmen und besonders viele Menschen töten wollen. Gök deckte auf, dass die Geschichte von der Polizei erfunden worden war. Er hatte acht Mal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und den Mord an Kemal Kurkut eindrücklich dokumentiert. Das Verfahren gegen Gök wird am 5. Dezember fortgesetzt.
Vorwürfe nicht justiziabel
Gegen Göks Kollegen Mehmet Şah Oruç wird an einem Gericht in der Provinz Bedlîs (Bitlis) verhandelt – wegen örtlicher Nichtzuständigkeit. Zugeschaltet in die Verhandlung an einem Gericht für schwere Straftaten wurde der ebenfalls von Resul Temur verteidigte Journalist allerdings über ein Videokonferenzsystem aus dem Gefängnis. Für Oruç fordert die Anklage sogar bis zu 22 Jahre und sechs Monate Haft. Begründet werden die Vorwürfe gegen ihn unter anderem mit 35 Berichten des Journalisten, die nach Auffassung der Staatsanwaltschaft „eindeutige Parallelen zur Ideologie der bewaffneten Terrororganisation PKK/KCK aufweisen“ und deren Ziele „symbolisch wie praktisch“ legitimieren würden. Konkret geht es in den Meldungen um die Isolationshaft Abdullah Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali und Initiativen wie Hungerstreiks von politischen Gefangenen dagegen sowie andere Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates an Kurdinnen und Kurden.
Mehmet Şah Oruç
Auch werden Interviews beanstandet, die Oruç mit kurdischen Parlamentsabgeordneten führte, etwa mit der DBP-Vorsitzenden Saliha Aydeniz, sowie Texte über die Auswirkungen von militärischen Ausgangssperren in Kurdistan für die Zivilbevölkerung. Besonders gestört fühlt sich die Staatsanwaltschaft jedoch an der Berichterstattung über russische und syrische Luftangriffe im Februar 2020 auf einen Konvoi nahe Idlib im Nordwesten von Syrien, bei denen 34 türkische Soldaten getötet worden waren, sowie einem Interview mit Ali Rıza Arslan. Der Kurde hatte sechs Jahre dafür gekämpft, seinen Sohn Hakan, der 2016 während der Belagerung des Altstadtbezirks Sûr in Amed ums Leben kam, würdevoll zu beerdigen. Am Ende wurden ihm die sterblichen Überreste des Kindes in einer Tüte ausgehändigt.
Rechtsanwalt Temur protestierte gegen die Kriminalisierung der journalistischen Tätigkeit seines Mandanten durch die Anklage und zog Parallelen zum Prozess gegen fünf andere kurdische Medienschaffende im Zusammenhang mit ihrer Berichterstattung um die sogenannte Hubschrauber-Folter. Die Journalist:innen hatten aufgedeckt, dass zwei Dorfbewohner aus Wan im September 2020 in der Nähe von Şax (Çatak) vom türkischen Militär verschleppt, gefoltert und aus einem Hubschrauber gestoßen worden waren. In der Folge wurden sie verhaftet und wegen „staatsfeindlicher Berichterstattung“ angeklagt. Das Verfahren gegen Adnan Bilen, Zeynep Durgut, Cemil Uğur, Nazan Sala und Şehriban Abi endete Anfang 2022 mit Freisprüchen. Zudem wurde eine Verfassungsbeschwerde gegen ihre Untersuchungshaft zu Gunsten der Presseleute entschieden. „Wir fordern das Gericht auf, das Urteil des höchsten Gerichts dieses Landes zu berücksichtigen. Keiner der Vorwürfe gegen meinen Mandanten ist in irgendeiner Form zutreffend, geschweige denn justiziabel. Er hat lediglich über soziale Ereignisse und Realitäten des kurdischen Volkes berichtet, aber Falschaussagen eines Zeugen haben zu seiner Verhaftung geführt“, sagte Temur. Die nächste Verhandlung gegen Oruç findet am 31. Oktober statt.