Der kurdische Journalist Mehmet Şah Oruç muss wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer „terroristischen“ Vereinigung und „Terrorpropaganda“ im September vor einer Großen Strafkammer in Bedlîs (tr. Bitlis) erscheinen. Für den 14. September wurde der Prozessauftakt angesetzt, wie die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) am Donnerstag mitteilte. Weitere Verhandlungstermine waren zunächst nicht geplant.
Bei Operation kurz vor den Wahlen verhaftet
Mehmet Şah Oruç arbeitet als Korrespondent von MA und ist einer von vier kurdischen Medienschaffenden, die Ende April unter „Terror“-Vorwürfen verhaftet worden waren. Dem vorausgegangen war eine landesweite Operation gegen die kurdische Opposition und Zivilgesellschaft, in deren Verlauf rund 200 Menschen festgenommen wurden, darunter ranghohe Funktionäre und Mitglieder der Grünen Linkspartei (YSP) und der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Presseleute, Anwältinnen und Anwälte sowie Aktive aus Kunst und Kultur. Mehr als sechzig Personen wurden in der Folge wegen angeblicher Mitgliedschaft oder Unterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verhaftet und damit nur wenige Wochen vor der Parlaments- und Präsidentschaftswahl aus dem Verkehr gezogen.
Sogenannter Kronzeuge liefert angebliche Beweise
Die Leitung der Festnahmeoperation lag formell bei der Oberstaatsanwaltschaft Diyarbakır (ku. Amed), wurde jedoch vom türkischen Innenministerium angeordnet. Im Fall von Oruç wurde die Ermittlungsakte im Juni wegen örtlicher Nichtzuständigkeit an eine Staatsanwaltschaft in Bedlîs abgegeben. Diese beschuldigt den Journalisten auf Grundlage der Aussagen von Ümit Akbıyık – ein früherer HDP-Aktivist, der sich inzwischen als Kronzeuge für die türkische Antiterrorpolizei betätigt und bereits in diversen Prozessen gegen Oppositionelle aufgetreten ist – „auf Anweisung des Pressekomitees der PKK/KCK“ zu arbeiten. Mit KCK ist die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans gemeint, die als Dachverband der kurdischen Bewegung fungiert und dem auch die PKK angehört.
Anklagebehörde beanstandet Berichte zu Menschenrechtsverletzungen
Begründet werden die Vorwürfe gegen Oruç zudem mit 35 Berichten des Journalisten, die von der Staatsanwaltschaft inkriminiert werden. Sie würden „eindeutige Parallelen zur Ideologie der bewaffneten Terrororganisation PKK/KCK aufweisen“, heißt es in der Anklageschrift. Zudem würden sie deren Ziele „symbolisch wie praktisch“ legitimieren. Konkret geht es in den Meldungen um die Isolationshaft Abdullah Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali und Initiativen wie Hungerstreiks von politischen Gefangenen dagegen sowie andere Menschenrechtsverletzungen des türkischen Staates an Kurdinnen und Kurden. Auch werden Interviews beanstandet, die Oruç mit kurdischen Parlamentsabgeordneten führte, etwa mit der DBP-Vorsitzenden Saliha Aydeniz, sowie Texte über die Auswirkungen von militärischen Ausgangssperren in Kurdistan für die Zivilbevölkerung.
Bis zu 22,5 Jahre Freiheitsstrafe gefordert
Besonders gestört fühlt sich die Staatsanwaltschaft jedoch an der Berichterstattung über russische und syrische Luftangriffe im Februar 2020 auf einen Konvoi nahe Idlib im Nordwesten von Syrien, bei denen 34 türkische Soldaten getötet worden waren, sowie einem Interview mit Ali Rıza Arslan. Der Kurde hatte sechs Jahre dafür gekämpft, seinen Sohn Hakan, der 2016 während der Belagerung des Altstadtbezirks Sûr in Amed ums Leben kam, würdevoll zu beerdigen. Am Ende wurden ihm die sterblichen Überreste des Kindes in einer Tüte ausgehändigt.
Sollte Mehmet Şah Oruç verurteilt werden, drohen bis zu 22 Jahre und sechs Monate Gefängnis. Der in Amed ansässige Journalistenverein Dicle Firat (DFG) ruft die Öffentlichkeit und zivilgesellschaftliche Organisationen zur solidarischen Prozessbeobachtung auf.