3. Dezember 1994 – Bombardierung von „Özgür Ülke“

Am 3. Dezember 1994 ließ die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller die Redaktionsräume der Zeitung „Özgür Ülke“ bombardieren. Ein Mitarbeiter starb, mehr als 20 wurden verletzt. Vor einem der Tatorte wurde an sie erinnert.

Parallel zu der breiten Volksbewegung in Kurdistan entstand Anfang der 90er Jahre ein neuer „kurdischer Journalismus“ – die „freie Presse”. Journalistinnen und Journalisten begannen, ihre kurdische Identität bei der Ausübung ihres Berufes in den Vordergrund zu stellen. Mit dem Erscheinen von Özgür Gündem („Freie Tagesordnung”) am 30. Mai 1992 existierte sodann die erste unabhängige prokurdische Tageszeitung, die nicht der staatlichen Kontrolle unterworfen war. Während die türkischen Medien den Terror gegen die kurdische Bevölkerung rechtfertigten und den Konflikt zwischen der PKK und der Armee als „Terror von Kriminellen gegen die Brüderlichkeit der türkischen Völker“ darstellend entpolitisierten, war Özgür Gündem das einzige Blatt, das schwerpunktmäßig über den Krieg in Kurdistan berichtete – trotz bestehender repressiver Gesetze. Es dauerte schließlich nicht besonders lang, bis die Zeitung ins Visier staatlicher Organe rückte.

27 Mitarbeiter in zwei Jahren ermordet

Bereits ab Januar 1993 musste Özgür Gündem infolge von Repression für drei Monate eingestellt werden. Die nachfolgende Phase war geprägt von ständigen Durchsuchungen der Redaktionsräume und Verhaftungen ihrer Belegschaft. Urteile von Staatssicherheitsgerichten über Haftstrafen von bis zu 75 Jahren führten am 24. April 1994 zur Schließung der Zeitung. Während ihrer zweijährigen Erscheinungszeit wurden acht Korrespondenten und 19 Verteiler von Özgür Gündem durch „unbekannte Täter” ermordet.

Bombardierung von Özgür Ülke in Istanbul und Ankara

Ab dem 28. April 1994 erschien mit Özgür Ülke („Freies Land”) eine Zeitung, die an die Arbeit von Özgür Gündem anknüpfte. Doch auch ihre Lebenszeit war nicht von langer Dauer. Nach mehreren Durchsuchungen wurden in der Nacht zum 3. Dezember 1994 die Redaktionsräume in Istanbul und Ankara auf Befehl der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller in die Luft gesprengt. Im Istanbuler Büro im Stadtteil Kadırga kam der 32-jährige Mitarbeiter Ersin Yıldız ums Leben. Dennoch gelang es Özgür Ülke, einen Tag später eine Ausgabe mit der Schlagzeile „Dieses Feuer wird euch auch verbrennen!“ herauszubringen.

„Trete für dein Land ein“

Bei einer Gedenkveranstaltung am Tatort Kadırga hielt die Menschenrechtsanwältin und IHD-Vorsitzende Eren Keskin ein altes Pressefoto, das eine junge Frau vor dem ausgebombten Verlagshaus zeigt. Sie hält die Frontseite der Özgür Ülke in der Hand, auf der Titelseite wird über die Verurteilung kurdischer Abgeordneter zu lebenslangen Haftstrafen berichtet. Weiter oben steht: „Trete für dein Land ein“. Das Foto wurde vor 27 Jahren im Stadtviertel Çağaloğlu aufgenommen, in dem damals mehrere Zeitungsverlage ihren Sitz hatten und auch Özgür Ülke ihren Hauptstandort untergebracht hatte.

Wir sind gestorben, die Denkweise des Staates ist geblieben

„Wenn wir uns fragen, was sich in den letzten 27 Jahren verändert hat, können wir sicher sagen, was sich nicht verändert hat: Die Denkweise des Staates. Diese Zeitung gehört Musa Anter. Sie ist die Zeitung von Hafız Akdemir und gehört auch Ferhat Tepe. An erster Stelle ist sie das Werk von Gurbetelli Ersöz, ihrer ersten Chefredakteurin. Doch sie alle sind tot, ermordet worden. Keiner ihrer Mörder wurde je zur Rechenschaft gezogen. Diejenigen, die den Befehl gaben, Özgür Ülke zu bombardieren – Tansu Çiller und Mehmet Ağar – verweilen noch immer unter uns. Sie stehen auch heute an der Seite der Mächtigen und setzen ihre Existenz fort“, sagte Eren Keskin in einer bewegenden Rede. „Damals haben sie uns ermordet, ließen uns in Gewahrsam verschwinden, bombardierten uns. Heute werden wir in sogenannten sozialen Medien verfolgt, unsere Meinungsfreiheit wird bedroht. Gegen uns laufen etliche Verfahren, es drohen langjährige Haftstrafen. Aber wir bleiben, wir fürchten uns nicht. Nicht vor den Mächtigen, nicht vor Gefängnissen, die ohnehin überfüllt sind mit unseren Freundinnen und Freunden. Wir kämpfen, denn wir haben unseren Vordenkern unser Wort gegeben. Unsere Verbundenheit gilt Apê Musa und allen anderen, die uns den Weg zur freien Presse erkämpft haben. Darum werden wir uns den Herrschenden nicht beugen. Denn nicht zu gehorchen, bedeutet Freiheit. Damit muss sich der Staat zurechtfinden, ob er will oder nicht“, schloss Keskin ihre Ansprache.

Nelken für Ersin Yıldız

An der Gedenkveranstaltung anlässlich des 27. Jahrestags der Bombardierung von Özgür Ülke nahmen zahlreiche Journalistinnen und Journalisten, Gewerkschafter:innen, Politiker:innen und Aktive der Zivilgesellschaft teil. Gekommen waren unter anderem die HDP-Abgeordnete Ebru Günay, die Istanbuler HDP-Vorsitzende Elif Bulut, die HDP-Sprecherin Esengül Demir, der Vorsitzende des Journalistenvereins DFG, Serdar Altan und Elif Akgül von der Gewerkschaft DISK. Auch Hüseyin Aykol, der Chefredakteur der Zeitung Yeni Yaşam (Neues Leben), die als aktuelles Nachfolgemedium der im Februar 1995 verbotenen Özgür Ülke gilt, war anwesend. Es gab viele Reden, in denen über persönliche Erlebnisse mit ermordeten Vertreter:innen der kurdischen Presse berichtet wurde. Annähernd 100 kurdische Journalist:innen sind in den 1990er Jahren „unter nicht geklärten Umständen” – zumeist in Polizeigewahrsam – ermordet worden. Allein 76 von ihnen waren Medienschaffende in der Tradition von Özgür Gündem. Viele kannten Hüseyin Akyol und Eren Keskin persönlich. Die Nelken, die für Ersin Yıldız niedergelegt wurden, galten auch ihnen.