JITEM-Prozess von Ankara wird neu aufgerollt

Das als JITEM-Prozess von Ankara bekannte Verfahren um das „Verschwindenlassen“ von 19 kurdischen Geschäftsmännern in den 90ern wird neu aufgerollt. Die Freisprüche für Ex-Innenminister Mehmet Ağar und 18 weitere Personen wurden aufgehoben.

Das als „JITEM-Prozess von Ankara” bekannte Verfahren um das „Verschwindenlassen“ von 19 kurdischen Geschäftsmännern zwischen den Jahren 1993 und 1996 wird neu aufgerollt. Ein Berufungsgericht in der türkischen Hauptstadt hob bereits am 5. April die im Dezember 2019 gesprochenen Freisprüche für 19 Personen, die dem tiefen Staat zugerechnet werden, auf und ordnete ein Wiederaufnahmeverfahren an. Den Anwält:innen der Opfer wurde das Urteil erst jetzt mitgeteilt.

Bei einem der Angeklagten handelte es sich um den ehemaligen Polizeichef und früheren Innenminister Mehmet Ağar, der sich aktuell im Zentrum der Enthüllungen des rechtsextremen Mafiabosses Sedat Peker über kriminelle Verstrickungen des Staates befindet.

Zur Begründung der einstimmig gefällten Entscheidung benennt die 1. Strafkammer des regionalen Berufungsgerichts Ankara neben Verfahrensmängeln, dass die Urteilsbegründung unzureichend gewesen sei und eine mangelnde Beweiswürdung erfolgte. Zudem hätten die Behörden es versäumt, die Zusammenhänge zwischen den Morden zu untersuchen. Das Verfahren wurde zur Neuverhandlung an die erste Instanz zurückverwiesen.

JITEM, Susurluk und der tiefe Staat

In dem Verfahren um das „Verschwindenlassen“ von 19 kurdischen Politikern, Anwälten, Geschäftsleuten und Beamten zwischen 1993 und 1996, die von Todesschwadronen des türkischen Staates extralegal hingerichtet wurden, darunter auch Savaş Buldan, Ehemann der HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan, waren 19 Personen wegen des Vorwurfs der „Bildung einer bewaffneten Vereinigung, die auf die Verwirklichung von Mord ausgerichtet ist”, angeklagt. Unter ihnen befanden sich neben Ayhan Çarkın, einem Ex-Beamten einer Spezialeinheit der türkischen Polizei, der 2008 im türkischen TV gestand, „im Kampf gegen den Terror etwa 1000 Menschen im Dienst des Staates getötet“ zu haben, auch Mahmut Yıldırım – bekannt als „Yeşil“, einem weiteren Auftragsmörder des „tiefen Staates“, und Mehmet Ağar, ehemaliger Generalpolizeipräsident der Türkei und Ex-Justizminister. Als Innenminister war Ağar in den sogenannten Susurluk-Skandal, bei dem die Zusammenarbeit zwischen Staat und organisiertem Verbrechen offenkundig wurde, verwickelt.

Susurluk: Synonym für Zusammenarbeit von Staat und organisiertem Verbrechen

Rückblick: Der Name der westtürkischen Stadt Susurluk steht als Synonym für die Verbindung staatlicher Stellen mit organisierter Kriminalität. Bei einem Verkehrsunfall am 3. November 1996 verunglückten in Susurluk der Parlamentsabgeordnete Sedat Bucak, der hochrangige Polizeifunktionär Hüseyin Kocadağ, ehemals Kommandant der Spezialkräfte in Colemêrg (Hakkari) sowie Vize-Polizeichef von Diyarbakir (Amed) und Istanbul und die Schönheitskönigin Gonca Us zusammen mit dem ehemaligen Funktionär der paramilitärisch-faschistischen „Idealistenverbände” und per Interpol gesuchten Mafiakiller Abdullah Çatlı. Nur Bucak, ein kurdischer Stammesführer aus Sêwreg (Siverek) und Mitglied der damaligen Regierungspartei (DYP) von Tansu Çiller, der in seinem Heimatort über eine Privatarmee von 20.000 Dorfschützern aus 90 Dörfern des von ihm kontrollierten Clans gegen die PKK verfügte, überlebte. Für die Bereitstellung der Dorfschützer bezog Bucak staatliche Gelder in Höhe von monatlich 1,3 Millionen US-Dollar.

Am Unfallort, wo die gepanzerte Mercedes-600-Limousine der Verunglückten mit hoher Geschwindigkeit auf einen LKW, der aus einer Raststätte herausfuhr, prallte, fand die Polizei einen vom damaligen Innenminister Mehmet Ağar unterzeichneten Ausweis, der Çatlı als „Polizeiexperten” auswies, einen Diplomatenpass, sieben Schusswaffen mit Schalldämpfern und Kokain. Die Medien begannen zu recherchieren und deckten ein Dickicht von Raub, Erpressung, Rauschgifthandel und Mord auf, in das höchste Regierungsstellen verstrickt waren.

Mehmet Ağar: Vom Polizeichef zum Justizminister

Mehmet Ağar arbeitete sich innerhalb des Polizeiapparates nach oben. 1988 wurde er in Ankara und 1990 in Istanbul Polizeichef. In dieser Zeit begann er mit dem Aufbau von Todesschwadronen und betätigte sich in Drogenhandel, Schutzgelderpressung und Zuhälterei. 1992 wurde Ağar nach Erzîrom (Erzurum) versetzt, wo er sich dem Aufbau bewaffneter ultranationalistischer MHP-Banden widmete. 1993 machte ihn Çiller zum Generalpolizeipräsidenten der Türkei. 1995 wurde er über die DYP ins Parlament gewählt und zum Justizminister ernannt. Als Justizminister machte sich Ağar für Isolationshaft und außergerichtliche Hinrichtungen stark. In drei Erlassen vom Mai 1996 schaffte er das Recht auf Verteidigung vor Gericht ab. Zwölf politische Gefangene starben bei einem Hungerstreik gegen diese Maßnahmen. Während der Regierung Erbakan wurde Ağar schließlich Innenminister, bis er in der Folge des Susurluk-Skandals zurücktreten musste.

Todesschwadronen mit Geheimfond finanziert

Zwischen 1993 und 1997 laufen die Fäden eines großen Teils der kriminellen Aktivitäten der Konter-Guerilla bei Tansu Çiller und Mehmet Ağar zusammen. Es galt, die Beherrschung des Drogenhandels, die Kontrolle über das Glücksspiel, das Ausschalten unliebsamer Konkurrenz – auch in anderen Wirtschaftszweigen, und die „Kriegsführung niedriger Intensität“  – jener bereits in Zentralamerika erprobten Aufstandsbekämpfungsstrategie, in Kombination mit einem gesetzlich verankerten Gewaltapparat aufrechtzuerhalten. Es heißt, Çiller und Ağar hätten zumindest eine der kriminellen Organisationen im „tiefen Staat” direkt angeführt und aus Mitteln eines Geheimfonds aus Çillers Zeit als Ministerpräsidentin finanziert. Als diese Finanzierung aufgedeckt wurde, drohte sie zu versiegen. Um zusätzliche Mittel aus dem Betrieb von Spielkasinos herausziehen zu können, musste die traditionelle Spielkasino-Mafia verdrängt werden. Ein Regierungsgesetz reglementierte fortan die bestehenden Kasinos und ließ neue Luxuskasinos nur auf genau definierten, abgegrenzten Territorien zu. Als eines dieser Territorien war Kuşadası im Gespräch, wo die Unfallopfer von Susurluk gemeinsam mit Mehmet Ağar Grundstücke gesichtet hatten. Als Hauptspekulantin für das Terrain trat die Familie Çiller auf. Neben dem Glücksspiel bildete auch der Drogenhandel eine der Haupteinnahmequellen für die Konter-Guerilla. Nach Angaben der deutschen Bundesregierung haben Mitte der neunziger Jahre 60 bis 90 Prozent des in Europa sichergestellten Heroins die Türkei passiert. Auf dem „9. Forum Balticum“, einer Konferenz zur international organisierten Kriminalität, die im Mai 1999 in Estland stattfand, wiesen die baltischen Staaten im Zusammenhang mit den türkischen Drogenkartellen darauf hin, dass Tansu Çiller und ihr Ehemann Özer nicht belegen konnten, „wie sich ihr Privatvermögen während der Amtszeit von Frau Çiller von 13 auf 70 Millionen DM mehrte.“  

Waffen aus Polizeibesitz

Die Waffen, die man nach dem Unfall in Susurluk in der verunglückten Limousine fand, waren offiziell als Polizeibesitz registriert und datierten auf jene Zeit, als Mehmet Ağar noch Polizeichef von Istanbul war. Vermutlich waren es die Waffen, mit denen etwa 100 kurdische Geschäftsleute in den Metropolen der Westtürkei ermordet wurden. Die Serie von Hinrichtungen begann mit der Festnahme des aus Colemêrg stammenden Abdülmecit Baskın, Chef der Einwohnermeldestelle in Ankara-Altındağ, durch Polizei-Spezialkräfte am 3. Oktober 1993. Sein Leichnam wurde einen Tag später mit auf den Rücken gefesselten Händen in einem verlassenen Gebäude in unmittelbarer Nähe vom Koordinationszentrum des türkischen Geheimdienstes MIT entdeckt. Baskın war mit drei Kugeln getötet worden. Mit dem Attentat auf den kurdischen Geschäftsmann Behçet Cantürk am 15. Januar 1994 und mit dem Mord an Savaş Buldan am 4. Juni 1994 setzte sich das „Verschwindenlassen” von missliebigen Konkurrenten und Oppositionellen fort. Kutlu Savaş, 1997 vom damaligen Ministerpräsidenten Mesut Yılmaz beauftragter Ministerialinspektor in der Susurluk-Affäre, sinnierte ein Jahr später in seinem 119-seitigen Bericht: „Vielleicht verbirgt sich der Beginn der Susurluk-Affäre auch in einem Satz der damaligen Ministerpräsidentin Çiller: ‚Wir verfügen über Listen von Geschäftsleuten, die der PKK helfen’. Und dann begannen die Hinrichtungen. Wer verfasste die Beschlüsse über die Hinrichtungen?“ Savaş bezog sich auf eine Pressekonferenz vom 4. November 1993, auf der Çiller noch weiter präzisierte: „Wir kennen die Künstler und Geschäftsleute, von denen die PKK Schutzgelder erhält. Wir werden sie zur Rechenschaft ziehen.“ Auf die als „Çillers Listen“ bekannt gewordenen schwarzen Listen wanderten Namen von Geschäftsleuten, die an pro-kurdische Kulturvereine, Zeitungen oder den Menschenrechtsverein IHD gespendet hatten, aber auch jene, die der staatlichen Mafia unliebsame Konkurrenten darstellten. Ganz oben auf den Listen stand die pro-kurdische Tageszeitung Özgür Ülke und ihr Finanzier Behçet Cantürk. Kurz nach der Pressekonferenz folgte die Bombardierung des Redaktionsgebäudes von Özgür Ülke. Cantürk sollte „gewarnt“ werden. Im Untersuchungsbericht von Sonderermittler Savaş heißt es hierzu: „Der Staat wurde mit Rechtsmitteln mit Cantürk nicht fertig. Die Folge war, dass die Zeitung Özgür Ülke mit Plastiksprengstoff in die Luft gejagt wurde.“ Cantürk ließ sich aber nicht einschüchtern. „Während erwartet wurde, dass Cantürk nunmehr dem Staat nachgibt, machte dieser sich jedoch daran, etwas Neues zu gründen. So wurde von der türkischen Sicherheitsorganisation beschlossen, ihn zu ermorden, und dieser Beschluss wurde vollstreckt.“ Die Attentäter - es handelte sich um Polizisten, die unter Abdullah Çatlıs Befehl standen und nach dem Anschlag gefasst worden waren -  wurden von der Istanbuler Polizei auf Weisung von oben wieder entlassen. „Die Entscheidungsbefugnis für Morde im Gebiet des Ausnahmezustandes war in den Händen von Unteroffizieren, stellvertretenden Kommissaren und den übergelaufenen Terroristen”, heißt es in dem Bericht.

Çiller ehrt Çatlı

Dem türkischen Staat war bereits damals im Kampf gegen seine Gegner jedes Mittel recht: Er hat Todesschwadrone gegen die kurdische Opposition eingesetzt, ließ kritische Journalisten ermorden, arbeitete eng mit der Mafia zusammen und beteiligte sich am internationalen Drogengeschäft. Die Verbindungen reichten bis in die Bundesrepublik. Am Rande eines Prozesses gegen vier Heroinschmuggler erklärte der Frankfurter Richter Rolf Schwalbe im Januar 1997, die Ermittlungen seien durch die guten Verbindungen der Angeklagten zur türkischen Außenministerin Tansu Çiller erschwert worden. Laut Kutlu Savaş war die Blütezeit der Kollaboration staatlicher Instanzen mit kriminellen Banden die Jahre 1993 bis 1996 - die Regierungszeit von Tansu Çiller. Diese hatte kurz nach dem Unfall in Susurluk zum Tod von Abdullah Çatlı erklärt: „Wir werden jedem Menschen die gebührende Achtung erweisen, der für das Wohl des Staates seine Pistole zieht.”

Ermittlungen 2011 eingeleitet

Die Ermittlungen zum „JITEM-Verfahren von Ankara“ wurden 2011 eingeleitet. Die Klage gegen Mehmet Ağar, İbrahim Şahin, Korkut Eken, Ayhan Çarkın, Ayhan Akça, Ziya Bandırmalıoğlu, Ercan Ersoy, Ahmet Demirel, Ayhan Özkan, Seyfettin Lap, Enver Ulu, Uğur Şahin, Alper Tekdemir, Yusuf Yüksel, Abbas Semih Sueri, Lokman Külünk, Mahmut Yıldırım, Nurettin Güven und Muhsin Korman wegen des Mordes an Abdülmecit Baskın, Namık Erdoğan, Metin Vural, Recep Kuzucu, Behçet Cantürk, Savaş Buldan, Haci Karay, Adnan Yıldırım, İsmail Karaalioğlu, Yusuf Ekinci, Ömer Lutfi Topal, Hikmet Babataş, Medet Serhat, Feyzi Aslan, Lazem Esmaeili, Asker Smitko, Tarık Ümit, Salih Aslan und Faik Candan wurde zwei Jahre später kurz vor Ablauf der Verjährung bei Gericht eingereicht. Im Verlauf des Verfahrens legte Mehmet Eymür, ehemaliger Leiter der MIT-Sicherheitsabteilung, dem Gericht eine Liste mit den Namen von 29 Personen vor, die hingerichtet wurden. Tansu Çiller und ihr Ehemann Özer erschienen trotz Vorladungen nicht vor Gericht, Belastungszeugen konnten angeblich nicht aufgefunden werden. Geständnisse des Angeklagten Ayhan Çarkın waren nach Auffassung der Richter nicht glaubwürdig. Im Dezember 2019 endete der Prozess mit Freisprüchen.