Başlangıç: Staat mit Mafiastruktur

Der Journalist Celal Başlangıç beschreibt den türkischen Staat angesichts der erneut ans Licht gekommenen kriminellen Verbindungen des Regimes als eine von organisierter Kriminalität durchsetzte Struktur.

Nachdem sich der türkische Regimechef Erdoğan von seinem engen Verbündeten, dem rechtsextremen Mafiapaten Sedat Peker, getrennt hatte, musste dieser das Land verlassen. Die Aussagen Pekers zeigen erneut die Verbindungen des Staates zur Mafia auf. In einem Video erhebt der Mafiaboss schwere Vorwürfe gegen die türkische Regierung und bringt den früheren Innenminister Mehmet Ağar und seinen Sohn Tolga Ağar, einen AKP-Abgeordneten, mit Vergewaltigung, Mord und dem Schmuggel von Kokain aus Kolumbien in Verbindung. Der Journalist Celal Başlangıç hat als Experte für den tiefen Staat, Spezialkriegsführung und organisierte Kriminalität unsere Fragen zu den Äußerungen Pekers und deren Bedeutung beantwortet.

Fangen wir am besten gleich mit den Aussagen Pekers an. Hat Sie überrascht, dass es jetzt zu solchen Aussagen über die Verbindungen zwischen Staat und Mafia kommt?

Es hat mich überhaupt nicht überrascht, denn es geht um einen unberechenbaren Kampf. Es handelt sich eigentlich um einen Mafiakrieg innerhalb des Regimes. Der deutlichste Beweis für einen Führungswechsel in der Mafia in der Türkei war die Freilassung des rechtsextremen Mafia-Paten Alaattin Çakıcı, auf die Devlet Bahçeli [Vorsitzender der Koalitionspartei der AKP, MHP] seit 2018, im Rahmen der sogenannten „Çakıcı-Amnestie“ hingewirkt hatte. Anschließend wurde Sedat Peker unter dem Vorwand, er müsse „seine Ausbildung abschließen“, gezwungen, ins Ausland zu gehen. Es ist klar, dass ihm jemand die Sicherheit gegeben hat, er solle bis April 2018 im Ausland bleiben, dann werde aufgeräumt und er könne wiederkommen. Aber es ist klar, dass dieses Versprechen gegenüber Peker nicht eingehalten wurde. Sedat Peker, der mit der einen Hand das „Graue Wölfe“-Zeichen und mit der anderen das „Rabia-Zeichen“ [Handsymbol der Muslimbruderschaft] zu machen pflegte, war ein Mafiapate, der vor allem für die AKP arbeitete.

Laut seinen Berichten hat er ja die Schmutzarbeit der AKP gemacht …

Ja, ohne Zweifel. Er hat Kundgebungen für die AKP durchgeführt und gedroht, er werde im Blut der Akademiker duschen. Er unterstützte die AKP stark und half ihr auf der Straße. Es ist jedoch deutlich geworden, dass insbesondere die AKP versucht hat, die Gewinne aus der Umwandlung von Gelände in Bauland über die MHP abzuwickeln. Diese Aufgaben wurden der MHP übertragen und dann wurde diese Operation durchgeführt. Die einfache Korruption, also eine Form von Korruption, die noch irgendwie mit dem Gesetz legitimierbar ist wie bei Ausschreibungen oder bei Gewinnen, blieben bei der AKP. Viel davon wurde aber auf Wunsch der Unterwelt auch an die MHP übertragen. So sieht es im Moment aus.

Die Mafiastrukturen im Zusammenhang mit dem Staat kamen ja in den 90er Jahren mit dem Autounfall von Susurluk ans Licht. Was sind Ihrer Meinung nach die Parallelen und die Unterschiede zu Susurluk?

Was in Susurluk ans Licht kam, war Konsequenz aus der Nichtbereitschaft zur Lösung der kurdischen Frage. Bei dem Unfall wurden ein rechtsextremer Mafiapate, ein alevitischer Polizeichef und ein kurdische Dorfschützer-Führer und Abgeordneter zusammen aufgefunden. Der Hauptunterschied zwischen diesen Jahren und den 1990ern ist, damals versuchte der Staat, die kurdische Frage durch Zusammenarbeit mit der Mafia zu lösen, dies fand aber immer unter staatlicher Kontrolle statt. Sie erhielt einen Freibrief und leckte sich die Finger danach. Heute, in den 2000er Jahren, sehen wir, dass diese Mafiagruppen den Staat abkassieren und sich tief in ihm festgesetzt haben. Sie arbeiten auf Rechnung des Staates und werden daher in der Region nicht mehr gebraucht, die Geschäfte werden auf andere Weise geregelt. Daraufhin begannen sie, mitten im Herz des türkischen Staates zu arbeiten. Es ist mittlerweile so weit gekommen, dass sich ein Polizeichef, ein ehemaliger Innen- und Justizminister und ein Mafiapate treffen. Das ist die Staatsstruktur.

In den 90er Jahren wurde die Verwicklung des Staats in den Drogenhandel bekannt. Damals war die DYP (Doğru Yol Parti) das Zentrum dieses Geschäfts. Wie sieht es heute mit den Verbindungen des Staates zum Drogenhandel aus?

Soweit ich weiß, war der Drogenhandel der 90er Jahre hauptsächlich dazu da, den illegalen Waffenkauf des Staates zu finanzieren. Natürlich erhielten die daran beteiligten kriminellen Organisationen entsprechende Provisionen. Jetzt sieht es so aus, als ob es mittlerweile kriminelle Organisationen gibt, die direkt mit dem Staat zusammenarbeiten. Diese Gruppen scheinen mittlerweile kritische Stellen des Staates erreicht zu haben. Vor allem der Kokainhandel scheint mittlerweile über die Türkei zu laufen. Das ist es, was man aus den Kokainfunden in Kolumbien und Panama feststellen kann. Es ist sehr interessant, dass die AKP die Häfen kontrolliert, in denen diese Waren ankommen sollten.

Die Lieferungen sollten von Kolumbien nach Izmir und von Panama nach Mersin gehen. Soweit ist das klar. Bisher konnten wir nicht herausfinden, wer hinter diesen Adressen steckt. Soweit wir das ermitteln konnten, sollte ein Teil der Ware an eine Chemiefabrik in Izmir gehen. Der Staat scheint in dieser Hinsicht nichts unternommen zu haben. Stellen Sie sich das mal vor, der kolumbianische Minister erklärt, dass das Kokain in die Türkei gehen sollte und benennt genau die Häfen. Aber in der Türkei ist bisher rein gar nichts geschehen.

Wie steht das Ganze im Zusammenhang mit Mehmet Ağar, der ja in Bezug auf extralegale Hinrichtungen und Massaker an Kurd:innen sowie auf Bombenanschläge auf Zeitungen und Parteien von etwa 1.000 Operationen sprach, die geführt worden seien?

Zuallererst, seien wir ehrlich, es ist wahr. Diese Kontinuität des Staates ist von entscheidender Bedeutung. In diesem Sinne haben wir mit einem Machtverständnis zu kämpfen, das in der Fortsetzung der 90er bis heute in die 2000er Jahre anhält. Insbesondere nachdem ihr Bündnis mit der „Gülen-Bewegung“ zerbrochen war, gab sich die AKP dem Ergenekon-Mafiastaat hin. Ich sage nicht, dass Ergenekon in jedem Sinne den Mafia-Staat betreibt, aber die Beziehung, die vom Palastregime zu Ergenekon aufgebaut wurde, hat eine von organisierter Kriminalität durchsetzte Staatsstruktur offenbart.

Wie weit wird Ihrer Meinung nach der durch die Aussagen von Sedat Peker ausgelöste Skandal reichen? Sind diese Aussagen etwa nur die Spitze des Eisbergs?

Solange die kurdische Frage in der Türkei nicht gelöst wird, ist es schwer zu sagen, wie weit das Ganze noch gehen wird. Das ist sicher. Der Hauptgrund, warum diese Mafia-Struktur den Staat kontrolliert und in ihm aufgestiegen ist, während sie vom Staat entsprechende Freibriefe erhielt und zum Partner des Staates wurde, ist die in der Türkei geschaffene Konterguerilla-Gladio-Struktur. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme wurden diese Strukturen in allen NATO-Staaten entweder aufgelöst oder verkleinert. In der Türkei ist dies aber nicht geschehen. Denn als die sozialistischen Staaten zusammenbrachen, eskalierte die kurdische Frage in der Türkei erneut und Gladio und die Konterguerilla wurden zur „Lösung“ der kurdischen Frage eingesetzt. Die derzeitige Partnerschaft der Mafia mit dem Staat ist auf den Beginn des kurdischen Konflikts in den 1980er Jahren zurückzuverfolgen. Ohne die kurdische Frage zu lösen, ist es nicht möglich, die Zusammenarbeit der Mafia und der Drogenhändler mit dem Staat zu verhindern. Wenn die kurdische Frage nicht gelöst wird, wird auch die ökonomische Frage nicht gelöst, es wird keine Demokratie hergestellt und die Mafia im Staat wird nicht aufgelöst werden.

Es sieht so aus, dass diese Mafiagruppen nicht nur in der Türkei agieren, sondern auch an der Kriegspolitik in den anderen Teilen Kurdistans mitwirken?

Ja, diese Strukturen werden noch mehr gebraucht als in den 90er Jahren. In den 90er Jahren führte die Türkei grenzüberschreitende Operationen in Irakisch-Kurdistan durch und rückte immer nur einige Kilometer in die Region ein. Wenn wir die 2020er Jahre betrachten, dann sieht es ganz anders aus. Sie müssen viel tiefer nach Irakisch-Kurdistan vordringen und haben mehr als 30 Basen in der Region. Andererseits müssen sie in Syrien kämpfen. Der Hauptgrund für die Militäroperationen, die sich in dieser Region ausbreiten, ist die Kurdenphobie der Republik Türkei. Es werden neue Linien weit vor der Grenze gezogen, und es werden mehr Banden und Drogengelder benötigt.