Die Enthüllungen des wegen organisiertem Verbrechen mit Haftbefehl gesuchten Ultranationalisten Sedat Peker über die kriminellen Verwicklungen der Regierung sorgen in der Türkei für Schlagzeilen. Peker, der vor seiner Flucht ins Ausland als Mafiapate des Erdogan-Regimes fungierte, bringt in seinen Videobotschaften hochrangige Regierungsvertreter mit Vergewaltigung, Mord und Kokainschmuggel in Verbindung. Besonders im Fokus stehen Innenminister Süleyman Soylu und der ehemalige Polizeichef und frühere Innenminister Mehmet Ağar. Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den Verbrechen des tiefen Staats und ist von den aktuellen Enthüllungen nicht überrascht:
„Als Menschenrechtsverein machen wir ohnehin seit Jahren darauf aufmerksam, dass die Staatslogik der neunziger Jahren immer noch Bestand hat. Man spricht zwar vom tiefen Staat, eigentlich handelt es sich jedoch um den bestimmenden Staat. Was Sedat Peker heute erzählt, ist unnötig, wir haben das alles in den neunziger Jahren in offener Form erlebt. Menschen sind ermordet worden oder nach der Festnahme verschwunden. Im Susurluk-Skandal sind die meisten dieser Verbindungen aufgeflogen. Der Staat hat in einem Bericht darüber die Existenz einer solchen Struktur zugegeben. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit kommt für den Staat der Republik Türkei jedoch nie in Frage, denn er wird von diesen Strukturen geleitet. Auch Sedat Peker sagt offen, dass er Teil des Staates ist. Vor gar nicht langer Zeit hat Peker uns alle mit dem Tod bedroht, aber das wurde als freie Meinungsäußerung gewertet. Als Menschen, die für Menschenrechte kämpfen und von den Machenschaften betroffen sind, sagen wir das seit Jahren, aber leider wird dadurch keine öffentliche Debatte ausgelöst. Das geschieht erst durch einen internen Konflikt innerhalb dieser Strukturen.“
Zu den von Peker enthüllten Verbindungen der Mafia zu Soylu und dem Staat sagte Eren Keskin: „Es ist nicht zu fassen, dass ein Innenminister, der für unsere Sicherheit verantwortlich ist, mit dem organisierten Verbrechen und einem Mafiapaten in Verbindung gebracht wird. Wäre das in Europa aufgeflogen, hätte es ein politisches Erdbeben gegeben, aber hier regt sich gar nichts.“ Die Menschenrechtsanwältin sieht diese Struktur als Fortsetzung der Spezialorganisation Teşkilât-ı Mahsusa des Komitees für Einheit und Fortschritt im Osmanischen Reich, die maßgeblich am Genozid an den Armeniern von 1915 beteiligt war. „In dieser Organisation waren Verbrecher, sie wurden aus den Gefängnissen geholt und innerhalb dieser Struktur eingesetzt. Dabei handelt es sich um ein gängiges Muster. Was wir fordern, ist eine Änderung dieser Denkweise und Struktur, wir diskutieren nicht über einzelne Namen. Aber wie gesagt, nicht was wir sagen, löst eine Debatte aus, sondern die Enthüllungen von Sedat Peker.“
Keskin sieht auch keinen großen Unterschied zwischen der Ära vor der AKP und dem heutigen Zustand des Staates: „Der Unterschied besteht nur darin, dass die AKP mit dem Anspruch angetreten ist, all das zu ändern. Später hat eine Einigung stattgefunden. Letztendlich besteht der Staat aus dieser Struktur und wenn man dieses Land regieren will, muss man sich damit arrangieren. Das zeigen uns die heute aufgedeckten der Verbindungen der AKP. Heutzutage ist die kurdische Frage eines der grundlegendsten Probleme der offiziellen Ideologie. Wir sprechen hier von einer Struktur, die davon lebt, dass die kurdische Frage nicht gelöst wird. Inzwischen deuten politische Analytiker an, dass es wieder zu Morden unbekannter Täter kommen wird. Es wird eine angstbesetzte Atmosphäre geschaffen und die Menschen bewegen sich mit dieser Angst. Wovon wir heute sprechen, ist eine Struktur, in der Personen wie Sedat Peker oder Alaattin Çakıcı, der einen Sohn vor den Augen seiner Mutter erschießen lässt, das Sagen haben. Während ihre Aussagen von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, werden wir für unsere friedliche Äußerungen mit Gefängnis bestraft. Ohne einer Veränderung dieser Struktur ist eine Demokratisierung in der Türkei nicht möglich.“