Samstagsmütter: Tausend Wochen Wut und Widerstand

Am Istanbuler Galatasaray-Platz sind heute weitaus mehr Menschen zusammengekommen als sonst. Grund war die 1000. Mahnwache der Samstagsmütter, die um Gerechtigkeit für Menschen kämpft, die in staatlichem Gewahrsam „verschwunden“ sind.

1000. Mahnwache der Samstagsmütter

Am Galatasaray-Platz in Istanbul sind an diesem Sonnabend mehrere tausend Menschen zum Protest mit den „Samstagsmüttern“ gekommen – weitaus mehr als sonst. Grund ist die 1000. Mahnwache der Initiative, die nach dem Verbleib von Menschen fragt, die in staatlichem Gewahrsam „verschwunden“ sind und Gerechtigkeit fordert. Seit bald drei Jahrzehnten dauert dieser Protest bereits an, und damit länger als die Aktion der „Mütter vom Plaza de Mayo“ in Buenos Aires, an der sich die Istanbuler Samstagsmütter einst orientierten. Die Solidarität war groß – Menschen aus Politik, Zivilgesellschaft und Kunst versammelten sich an dem Platz in der Istanbuler Innenstadt und forderten Aufklärung über das Schicksal der Verschwundenen.

Wir vergessen nicht, wir geben nicht auf

„Wir wollen unsere Vermissten zurück“, sagte Sebla Arcan vom Menschenrechtsverein IHD, die als erstes auf der Mahnwache sprach. Sie forderte Informationen über die Menschen, die der staatlichen Gewalt zum Opfer fielen oder verschleppt wurden. Es gebe immer noch unzählige Verschwundene, deren Leichen irgendwo im Land verscharrt wurden und darauf warteten, endlich in Würde bestattet zu werden. „Das Einzige, das von ihnen blieb, sind die Fotos, die wir bei uns tragen. Seit tausend Wochen warten wir mit unendlichem Schmerz und Hoffnung auf unsere Liebsten, die der Staat uns genommen hat. Tausend Wochen zwischen Wut und Widerstand für unsere Verschwundenen, gegen das Vergessen, gegen die Straffreiheit, die der Staat den Tätern gewährt. Tausend Wochen, in denen wir immer wieder betont haben: Wir vergessen nicht, wir geben nicht auf.“


Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als verschwunden. Ähnlich wie in Argentinien, machte die Türkei mit dieser Praxis nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Doch selbst nach dem Übergang zu einer zivilen Regierung wurde diese Methode nicht abgeschafft, im Gegenteil. Mitte der 90er, als der schmutzige Krieg gegen die PKK besonders blutig war, erreichte das Verschwindenlassen von Gefangenen unter der damaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 Verschwundenen durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte – während dieser dunklen Periode aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt.

Oft waren die Verschwundenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist – und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.


Emine Ocak (3. v. l. im Bild) gilt als Symbol der Samstagsmütter. Die 88-Jährige kennt alle Fälle des Verschwindenlassens in der Türkei, schließlich war es die Kurdin, die die am längsten in dem Land andauernde Aktion des zivilen Ungehorsams ins Rollen brachte, nachdem ihr Sohn Hasan an Newroz 1995 in Istanbul festgenommen und zu Tode gefoltert wurde. Ocak dankte allen Anwesenden für ihre Unterstützung der 1000. Mahnwache der Samstagsmütter.

Straflosigkeit beenden

Hanım Tosun, deren Mann Fehmi ebenfalls 1995 in Istanbul von der Polizei verschleppt und seitdem nie wieder gesehen wurde, zeigte sich zuversichtlich, dass die Täter „früher oder später Rechenschaft ablegen werden“. In einer bewegenden Rede sagte sie: „Unsere Geschichte ist geprägt von einem Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit und gegen Unterdrückung und Verleugnung. Es ist ein Kampf, der gezeichnet ist von schwerer Brutalität, endloser Trauer und Folter.“ Alle zuständigen Behörden des Landes, zuallererst das Justizministerium, seien aufgefordert, die Straflosigkeit endlich zu beenden und Fälle des Verschwindenlassens in Polizeigewahrsam aufzuklären, um Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.


Täter vor Gericht stellen

Zübeyde Tepe, Mutter des Journalisten Ferhat Tepe, der als Reporter der Zeitung Özgür Gündem im Sommer 1993 von zivil gekleideten Männern mit Walkie-Talkies entführt und ermordet wurde, nannte einige Täternamen, die „irgendwann mit Sicherheit“ vor Gericht landen und für ihre Verantwortung beim Verschwindenlassen verurteilt würden: Tansu Çiller, die unter anderem 1994 die Redaktionsräume der Zeitung „Özgür Ülke“ bombardieren ließ, und Mehmet Ağar – einst Polizeichef und später Innenminister. Bei beiden laufen zwischen 1993 und 1997 die Fäden eines großen Teils der kriminellen Aktivitäten der Konter-Guerilla zusammen. „Und auch wenn wir tot sind: Unsere Kinder und Enkelkinder werden uns auf dem Galatasaray-Platz vertreten und den Kampf um Gerechtigkeit fortsetzen“, sagte Tepe. „Nur wenn Rechenschaft darüber abgelegt wird, wie und warum unsere Angehörigen verschwundengelassen wurden, wenn alle Täter bestraft und die Knochen aller Vermissten in Gräber gelegt werden, an denen Angehörige trauern können, erst wenn der Staat die Praxis des Tötens in seiner Obhut beendet, erst dann werden wir den Widerstand beiseite legen. Solange all das nicht geschieht, geht der Kampf weiter.“

Verboten, Festnahmen und Gewalt zum Trotz

Die mit der Sitzaktion der Familie des durch Folter ermordeten Lehrers Hasan Ocak ins Leben gerufene Initiative der Samstagsmütter begann am 27. Mai 1995. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins aussetzen, da die Polizei die Versammlungen regelmäßig auflöste. Seit dem Widerstand im Istanbuler Gezi-Park 2013 waren Protestaktionen auf dem Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium verboten. Nur die Samstagsmütter durften hier weiter protestieren. Doch mit der Anschuldigung einer „Nähe zur PKK“ wurde am 25. August 2018 die 700. Mahnwache der Initiative verboten und gewaltsam aufgelöst. Seitdem wurden alle Protestaktionen auf dem Galatasaray-Platz verboten. Der türkische Verfassungsgerichtshof entschied am 22. Februar 2023, dass das Versammlungsverbot rechtswidrig war. Danach versuchten die Samstagsmütter und ihre Unterstützer:innen Woche für Woche, ihre Kundgebung auf dem Galatasaray-Platz abzuhalten. Monatelang wurden in der Istanbuler Innenstadt dennoch jeden Samstag Dutzende Menschen festgenommen, der Platz wurde von einem Großaufgebot der Polizei belagert. Erst seit letztem November gibt es keine Festnahmen mehr, an den Mahnwachen durften seither aber nur noch zehn Personen teilnehmen.