Die Generalstaatsanwaltschaft von Istanbul hat Anklage gegen mehrere Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Mahnwache der Initiative der Samstagsmütter erhoben. Den Betroffenen, darunter neben Angehörigen von „Verschwundenen“ auch etliche prominente Menschenrechtler*innen, wird ein Verstoß gegen das türkische Versammlungs- und Demonstrationsgesetz vorgeworfen. Laut Eröffnungsbeschluss der 21. Strafkammer des Landgerichts Istanbul werden insgesamt 46 Personen beschuldigt, gegen Gesetz Nr. 2911 verstoßen zu haben. Bei einer Verurteilung drohen bis zu drei Jahre Haft. Der genaue Termin für die Verhandlung soll in den nächsten Tagen bekanntgegeben werden.
Hintergrund: Zum 700. Mal kamen die Samstagsmütter am Mittag des 25. August 2018 auf ihrem angestammten Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium in der Istanbuler Fußgängerzone Istiklal Caddesi zusammen, um mit einer friedlichen Mahnwache an ihre verschwundenen Angehörigen zu erinnern. Seit 1995 geht die Iniative, mehrheitlich Frauen, Woche für Woche auf die Straße und fordert Gerechtigkeit für die Opfer des „Verschwindenlassens” während der 1980er und 1990er Jahren. Zwischen 1999 und 2009 mussten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins aussetzen, da die Polizei die Versammlungen regelmäßig auflöste.
Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse
Auch die 700. Mahnwache der Samstagsmütter war ähnlich verlaufen: Auf Anordnung des türkischen Innenministers Süleyman Soylu, der die Versammlung im Vorfeld wegen angeblichen Verbindungen zu einer „Terrororganisation“ verboten hatte, fuhr die Polizei mit Wasserwerfern auf und griff die Menschenmenge mit Tränengas und Gummigeschossen an. Das gewaltsame Vorgehen der Polizei sowie das Demonstrationsverbot seien berechtigt, weil sich die Samstagsmütter von Terrororganisationen instrumentalisieren lassen würden, hatte Soylu gesagt. Außerdem sei das 700. Treffen in den sozialen Netzwerken auch von Gruppierungen beworben worden, denen der Innenminister eine Nähe zur PKK unterstellt. Daher wolle man der „Ausbeutung und dem Betrug“ ein Ende setzen, hatte es geheißen.
47 Personen wurden damals vorübergehend festgenommen, darunter auch die heute 84-jährige Emine Ocak, die als Symbol der Samstagsmütter gilt. Ihren Sohn Hasan Ocak hat man am 21. März 1995 verschwinden lassen. Der Leichnam des Lehrers tauchte fast zwei Monate nach seinem Verschwinden auf einem Istanbuler Friedhof auf. Der erst 30-Jährige starb durch Foltereinwirkung.
Die nun erhobene Anklage richtet sich gegen 46 der damals festgenommenen Aktivistinnen und Aktivisten. Es handelt sich um: Koray Çağlayan, Koray Kesik, Leman Yurtsever, Levent Gökçek, Lezgin Özalp, Maside Ocak, Mehmet Günel, Muhammed Emin Ekinci, Ayça Çevik, Besna Koç, Cafer Balcı, Can Danyal Aktaş, Cihan Oral Gülünay, Cüneyt Yılmaz, Deniz Koç, Ercan Süslü, Ezgi Çevik, Faruk Eren, Fecri Çalboğa, Ferhat Ergen, Gamze Elvan, Hakan Koç, Hasan Akbaba, Hasan Karakoç, Jiyan Tosun, Kenan Yıldızerler, Murat Akbaş, Murat Koptaş, Onur Yanardağ, Osman Akın, Özer Oymak, Özge Elvan, Ramazan Bayram, Rüşa Sabur, Sadettin Köse, Adil Can Ocak, Ahmet Karaca, Ahmet Süleyman Benli, Ali Ocak, Ali Yiğit Karaca, Atakan Taşbilek, Ataman Doğa Kıroğlu, Saime Sebla Arcan, Sinan Arslan, Ulaş Bedri Çelik und Volkan Uyar. Ein Verfahren gegen mehrere Parlamentsabgeordnete, die sich an der 700. Mahnwache beteiligt hatten und von der Polizei angegriffen worden waren, wurde abgetrennt.
Samstagsmütter setzen Protest virtuell fort
Seit dem 25. August 2018 wurde jede Mahnwache der Samstagsmütter durch die türkischen Behörden auf dem Galatasaray-Platz blockiert. Stattdessen versammelte sich die Initiative Woche für Woche vor der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD in der kleinen Seitenstraße Çukur Çeşme, um nach dem Verbleib der Vermissten zu fragen – dann kam die Corona-Pandemie. Die Samstagsmütter sind allerdings entschlossen, ihren Protest fortzusetzen. Die Mahnwachen finden daher virtuell statt.