Nach der gewaltsamen Auflösung des friedlichen Protests der Samstagsmütter in Istanbul wollen die Frauen ihre Demonstrationen fortsetzen. Das teilten sie gestern auf einer Pressekonferenz im Menschenrechtsverein IHD (Insan Hakları Derneği) mit. Vergangenen Samstag hatte die wöchentliche Aktion der Samstagsmütter, die seit 23 Jahren Aufklärung über ihre in der Türkei verschwundenen Angehörigen fordern, zum 700. Mal stattgefunden. Vor allem sind es Mütter, Schwestern und Ehefrauen, die jeden Samstag um 12.00 Uhr auf dem Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium im Stadtteil Beyoğlu zusammenkommen, um auf ihre Angehörigen aufmerksam machen, die nach der Festnahme spurlos verschwunden sind.
Auf Befehl des türkischen Innenministers Süleyman Soylu war die 700. Kundgebung der Samstagsmütter verboten worden. Die Polizei fuhr mit Wasserwerfern auf und griff die Menschenmenge mit Tränengas und Gummigeschossen an. 47 Personen wurden vorübergehend festgenommen, darunter auch die 82-jährige Emine Ocak, die als Symbol der Samstagsmütter gilt. Ihren Sohn Hasan Ocak hat man am 21. März 1995 verschwinden lassen. Seitdem ist Emine Ocak jeden Samstag am Galatasaray-Platz. Der Leichnam von Hasan tauchte fast zwei Monate nach seinem Verschwinden auf einem Istanbuler Friedhof auf. Der erst 30-Jährige starb durch Foltereinwirkung.
Innenminister Soylu begründete das gewaltsame Vorgehen der Polizei sowie das Demonstrationsverbot mit angeblichen Verbindungen der Samstagsmütter zu einer „Terrororganisation“.
„Hätten wir etwa die Augen davor verschließen sollen, wenn Mutterschaft von einer Terrororganisation ausgenutzt wird?“, sagte Soylu vor angehenden Landräten während eines Eröffnungsprogramms und warf den Frauen vor, sich von Terrororganisationen instrumentalisieren zu lassen. Das 700. Treffen sei zudem in den sozialen Netzwerken auch von Gruppierungen beworben worden, denen er eine Nähe zur PKK unterstellte. Die Regierung wolle der „Ausbeutung und dem Betrug“ ein Ende setzen, sagte der Minister weiter.
Samstagsmütter trotzen Demonstrationsverbot
Die Samstagsmütter haben unterdessen angekündigt, kommendes Wochenende trotz des Verbots wieder zu demonstrieren. Die Behauptung Soylus, die PKK würde die Bewegung der Mütter unterstützen, um den „Terrorismus zu legitimieren“, sei ein weiterer Versuch, die Verbrechen des Staates zu decken. Der Verbleib der Verschwundenen sei nie untersucht worden, obwohl Staatspräsident Erdoğan im Jahr 2011 – damals noch als Ministerpräsident - die Samstagsmütter empfing und Aufklärung versprach. Die Aussagen des Innenministers deuten nun auf eine Einmischung in die Justiz, damit die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, so die Angehörigen der Verschwundenen.
„Soylu kann uns nicht von diesem Platz vertreiben. Seine Aufgabe besteht nicht darin, uns von dort wegzubringen, seine Arbeit ist es, zu kommen und uns zuzuhören“, sagte Mikail Kırbayır, dessen Bruder Cemil einen Tag nach dem Militärputsch am 12. September 1980 verschwunden ist. Seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört. Die Mutter Berfo Kırbayır hatte seit dem Verschwinden ihres Sohnes alle Hebel in Bewegung gesetzt, die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Eine parlamentarische Kommission teilte ihr 2011 mit, dass Cemil Kırbayır an den Folgen von Folter gestorben sei. Weitere Informationen erhielt sie nicht.
Als Berfo Kırbayır vor fünf Jahren verstarb, war sie 105 Jahre alt. Zwei Tage vor ihrem Tod sagte sie einer Journalistin: „Ich habe sechs Kinder geboren, drei Töchter und drei Söhne. Mein Sohn Cemil war ein Revolutionär. Immer wenn wir den Staat nach seinem Verbleib gefragt haben, wurde uns gesagt, er sei geflohen. Wir haben ihnen geglaubt. Ich habe 27 Jahre lang gedacht, mein Sohn wird eines Tages wiederkommen, bis vor sieben Jahren der ehemalige AKP-Abgeordnete Zafer Üskül erklärte, Cemil Kırbayır sei bei der Folter gestorben. Seitdem suche ich die sterblichen Überreste meines Sohnes. Er war furchtlos. Er hat in Qers (Kars) gearbeitet. Er hat sich gegen die Ausbeutung der Dorfbewohner aufgelehnt. Meinen Sohn haben die Polizisten Mehmet Hayta, Selçuk Ayyıldız und Zeki Tunçkolu ermordet. İsmail Kırbayır hat jahrelang ihre Verurteilung gefordert und ist schließlich 1991 gestorben. Ich möchte nun sterben, aber ohne die Gebeine meines Sohnes gesehen zu haben und vor seinem Grab ein Gebet gesprochen zu haben, werde ich mit offenen Augen gehen. Der Ministerpräsident hatte mir versprochen, die Stelle zu finden, wo die Gebeine meines Sohnes begraben liegen. Ich erwartete, dass er sein Versprechen hält. Mein Wille ist, mich nicht zu begraben, falls ich sterben sollte, bevor der Ort gefunden wird, wo Cemil begraben liegt, meine Beerdigung nicht durchzuführen; ich will mit meinem Sohn in dasselbe Grab gelegt werden. Ich rufe diejenigen auf, die meinen Sohn getötet haben; ich stehe kurz vor dem Tod, ich bitte inständig, sie sollen mir die Gebeine meines Sohnes geben.“
Die Gebeine von Cemil Kırbayır wurden noch immer nicht gefunden.