Knapp vier Wochen sind vergangen, seit Ferhan Yılmaz in einem staatlichen Krankenhaus in der Provinz Istanbul gestorben ist – offensichtlich an den Folgen von Folter, die ihm im Gefängnis Silivri wenige Tage vor seiner Entlassung zugefügt wurde. Die türkischen Justizbehörden zeigten bisher kein Interesse, den Fall aufzuklären. Zwar hatte die zuständige Staatsanwaltschaft angekündigt, ein Ermittlungsverfahren einleiten zu wollen. Dieselbe Behörde ließ zu dem Fall allerdings auch verlauten, dass es keine Hinweise auf Gewalteinwirkung gebe.
Mit der Forderung, eine „strukturelle Untersuchung“ der „Folterverbrechen“ in Silivri einzuleiten, die Verantwortlichen zu bestrafen und Gerechtigkeit für Ferhan Yılmaz walten zu lassen, versammelten sich Angehörige am Freitag vor dem Eingang zu dem Strafvollzugskomplex zu einer Mahnwache. Unterstützt wurden sie dabei von der HDP-Abgeordneten Züleyha Gülüm. Die Politikerin sprach als erstes und wies darauf hin, dass Folter und Gewalt in Polizei- und Militärhaft sowie in Gefängnissen in der Türkei trotz der seit 2003 von der Regierung propagierten „Null-Toleranz”-Politik weiterhin weitverbreitete Praxis ist und damit nach wie vor eines der größten Menschenrechtsprobleme des Landes darstellt.
Auf Plakaten waren die letzten Bilder von Ferhan Yılmaz zu sehen | Foto: MA
„Das Justizministerium aber schweigt, statt für Aufklärung zu sorgen und die Verantwortlichen zu bestrafen. Die einzige Reaktion auf Foltervorwürfe ist Leugnung und der Verweis auf die Mär von ‚Null Toleranz‘. Warum musste Ferhan Yılmaz denn dann sterben? Weil Staatsbedienstete außerhalb des Rechts stehen, wenn sie Menschen zu Tode foltern oder auf andere Art massiv gegen Menschenrechte verstoßen? Wie kann es sein, dass keine ernstzunehmenden Ermittlungen über die Zustände in Silivri eingeleitet werden, wenn die Gefangenen und ihre Angehörigen doch von systematischer Folter mit dem Ziel, die Inhaftierten in den Tod zu treiben, sprechen?”, fragte Gülüm.
Im Fall Ferhan Yılmaz hatte die Vollzugsleitung behauptet, der 28-Jährige hätte einen Herzinfarkt erlitten. Das gerichtsmedizinische Institut vermerkte in der Sterbeurkunde dagegen eine ansteckende Krankheit als Todesform. Später tauchten Videoaufnahmen aus dem Krankenhaus auf, die Yılmaz mit angeschwollener Lippe und Blessuren im Gesicht zeigen. Der Sarg, mit dem seine Leiche nach Êlih transportiert wurde, war mit Blutflecken übersät.
Hikmet Yılmaz | Foto: MA
„Wir wissen, dass mein Bruder Ferhan von den Gefängnisaufsehern hier in Silivri, die sich bandenmäßig verhalten, auf brutale Weise ermordet worden ist. Mehrere seiner Mitgefangenen, die bezeugen können, dass er eben nicht an einem Herzinfarkt starb, wurden ebenfalls Opfer dieses systematischen Vorgehens. Deshalb sind sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in andere Haftzentren verlegt worden”, sagte Hikmet Yılmaz. In einem Interview mit Mezopotamya hatte dieser zum Zustand seines Bruders im Krankenhaus von Silivri erklärt: „Seine Lippen waren aufgeschwollen. Durch die Schwellungen konnte man seine Augen nicht mehr sehen. Unter seinen Augen lief Blut runter. An seiner Brust gab es Blessuren. An seinem Hals gab es eine etwa 20 cm lange Narbe. Es sieht danach aus, dass man versucht habe ihn mit einem Seil zu strangulieren. An seiner Nase gab es auch Blessuren.“
Zeitgleich zur Mahnwache in Silivri gab es eine ähnliche Aktion im Atatürk-Park in Êlih. Ferhans Vater Mehmet Yılmaz (2.v.r.) wurde dabei von Mitgliedern der örtlichen Anwaltskammer und Politiker:innen verschiedener Parteien unterstützt. Foto: MA
„Der Tod von Ferhan lässt sich leider nicht rückgängig machen. Aber der Tod von anderen Gefangenen kann verhindert werden, wenn wir bewirken, dass die Folterer bestraft werden. Das ist unser sehnlichstes Anliegen als Familie von Ferhan“, sagte Hikmet Yılmaz. Dafür wollten sie kämpfen, koste es, was es wolle. „Denn nur wenn meinem Bruder und allen anderen, die dasselbe Schicksal teilen, Gerechtigkeit widerfährt, können wir verhindern, dass die Gefängnisse in Folterzentren verwandelt und noch mehr unserer Geschwister ermordet werden.“
Silivri: Internierungslager für Oppositionelle
Der 2008 eröffnete Strafvollzugskomplex Silivri gilt als größtes Gefängnis in Europa und ist berüchtigt für Übergriffe, Schikanen und Gewalt. Offiziell heißt der Bau „Campus der Strafvollzugsanstalten Silivri“. Er liegt einen Kilometer vom Marmarameer entfernt und befindet sich in der gleichnamigen Stadtgemeinde Silivri etwa 70 Kilometer westlich von Istanbul.
Auf dem Gelände gibt es zehn einzelne Haftkomplexe mit Mehrpersonen- als auch Einzelzellen, auch für Frauen, dazu ein Krankenhaus und mehrere Gerichtssäle. Die Patrouillenstraße um das Gelände ist etwa so groß wie 200 Fußballplätze. Außerhalb der Mauern befinden sich etwa 500 Dienstwohnungen für die Beschäftigten. Die Regierungsangaben über die Kapazität schwanken zwischen 10.000 und 13.000 Insassen. Menschenrechtsorganisationen weisen demgegenüber immer wieder auf eine Überbelegung der Zellen hin.
Oppositionelle beschreiben den Silivri-Komplex als Internierungslager, weil dort hauptsächlich Kritikerinnen und Kritiker von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eingesperrt werden: Medienschaffende, Politiker:innen, Wissenschaftler:innen, Jurist:innen und andere führende Köpfe der Zivilgesellschaft. Aktuell sitzen in Silivri mehr als 15.000 Häftlinge ein, die meisten sind politische Gefangene wie etwa Selçuk Kozağaçlı, Vorsitzender des Anwaltsverbands ÇHD, oder der Bürgerrechtler Osman Kavala, der unlängst zu einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden ist. Ehemalige Silivri-Gefangene sind unter anderem die stellvertretende HDP-Vorsitzende Meral Danış Beştaş, der Kölner Sozialwissenschaftler Adil Demirci und der Exil-Journalist Can Dündar.