450 Jahre Haft für ÇHD-Anwälte gefordert
Im teilweise neu aufgerollten Verfahren gegen 22 Rechtanwältinnen und Rechtsanwälte der Juristenvereinigung ÇHD hat die Istanbuler Staatsanwaltschaft bis zu 450 Jahre Gefängnis gefordert.
Im teilweise neu aufgerollten Verfahren gegen 22 Rechtanwältinnen und Rechtsanwälte der Juristenvereinigung ÇHD hat die Istanbuler Staatsanwaltschaft bis zu 450 Jahre Gefängnis gefordert.
Im teilweise neu aufgerollten Verfahren gegen Rechtanwältinnen und Rechtsanwälte der Vereinigung progressiver Jurist:innen (ÇHD) hat die Oberstaatsanwaltschaft von Istanbul eine Gesamtstrafe von bis zu 450 Jahren Haft gefordert. Den Angeklagten wird Leitung und/oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation – gemeint ist die verbotene „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front” (DHKP-C) – sowie Terrorpropaganda vorgeworfen.
Angeklagt in dem Verfahren sind insgesamt 22 Rechtanwältinnen und Rechtsanwälte, darunter der seit fünf Jahren inhaftierte ÇHD-Vorsitzende Selçuk Kozağaçlı, Träger des Hans-Litten-Preises, und seine Kollegin Barkın Timtik, die mit dem Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreis 2020 ausgezeichnet wurde und Schwester von der Rechtsanwältin Ebru Timtik ist, die nach einem 238-tägigen „Todesfasten“ für ein gerechtes Verfahren im vergangenen Jahr starb.
Keine Beweise, nur Schuldzuweisungen
Im Verfahren gegen den ÇHD gibt es keine Beweise, sondern nur Schuldzuweisungen. Die Anklage stützt sich hauptsächlich auf Aussagen vermeintlicher Überläufer der DHKP-C, von denen angenommen wird, dass es sich um Agenten des türkischen Geheimdienstes (MIT) handelt, und angebliche Dokumente von den Polizeibehörden in Belgien und den Niederlanden. Aus diesen Dokumenten, welche die türkische Polizei über Auskunftsersuchen erhalten haben will, gehe laut einem staatsanwaltlichen Gutachten hervor, dass die Angeklagten Verbindungen zur DHKP-C hätten und „im Sinne ihrer Ziele” handelten. Die ÇHD-nahe Kanzlei Rechtsbüro des Volkes (HHB) sei laut belgischen und niederländischen Sicherheitsbehörden eine „Nebenorganisation“ der DHKP-C.
Kozağaçlı: Angriff auf die freie Advokatur
Selçuk Kozağaçlı bezeichnete den Prozess, der im Gerichtssaal auf dem Gelände des Gefängniskomplexes Silivri verhandelt wird, als rechtswidrig und „Angriff auf die freie Advokatur“. Die Staatsanwaltschaft habe die Anklageschrift vom Prozess der Vorinstanz kopiert, das Gericht mache sich mit dem Verfahren einer Straftat schuldig. „Es handelt sich um einen nicht legitimierbaren und politisch motivierten Prozess. Wir sind angeklagt, weil wir als Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte unsere Aufgaben wahrgenommen und unser Recht auf freie Meinungsäußerung ausgeübt haben.” Aus den Zuschauerreihen, in denen zahlreiche Beobachterinnen und Beobachter aus dem In- und Ausland saßen, gab es Applaus.
Prozess auf Januar vertragt
Das Gericht wies alle Anträge auf Einstellung des Verfahrens zurück, ordnete jedoch die Einsicht in die Dokumente der niederländischen und belgischen Polizei sowie die Protokolle der Zeugenaussagen und eine Identitätsprüfung im Fall des vermeintlichen MIT-Agenten Ismet Özdemir an. Kozağaçlı und Timtik bleiben in Haft, der Prozess wird erst im kommenden Jahr fortsetzt. Die fünfte Hauptverhandlung findet laut Gericht vom 5. bis 7. Januar 2022 statt.
Staatliche Repression gegen ÇHD und HHB
Die Mitglieder von ÇHD und HHB stehen seit Jahrzehnten im Fokus der türkischen Repressionsbehörden. Sie sind bekannt für ihren Kampf bei der Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten und übernehmen vorwiegend politische Mandate: So waren sie alle an erfolgreichen Prozessen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Türkei beteiligt. Selçuk Kozağaçlı etwa, der zu den prominentesten Angeklagten im ÇHD-Verfahren zählt, vertrat vor seiner Haft die Angehörigen des 54-jährigen Metin Lokumcu, der 2011 bei Protesten gegen Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfveranstaltungen in der Schwarzmeerküstenregion getötet wurde, als die Polizei Tränengas einsetzte. Außerdem engagierte er sich im Fall des 15-jährigen Berkin Elvan, der bei den Gezi-Protesten 2013 von einer Tränengaspatrone am Kopf getroffen wurde und nach neun Monaten im Koma verstarb, vertrat die Hinterbliebenen der Toten des Grubenunglücks von Soma sowie die Universitätsdozentin Nuriye Gülmen und den Lehrer Semih Özakça, die nach dem vereitelten Militärputsch 2016 aus dem Staatsdienst entlassen wurden.