Mahnwachen für bedrohte Anwaltschaft vor EGMR

In der Türkei ist neben Opposition und Presse auch die Anwaltschaft bedroht. 146 Anwälte sitzen derzeit in Haft, zum EGMR konnten sie aber bislang nicht vordringen. Die „Bewegung für bedingungslose Gerechtigkeit“ will das ändern.

Von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert kommt die von verfolgten Exilanwält*innen aus der Türkei ins Leben gerufene „Bewegung für bedingungslose Gerechtigkeit“ (tr. Koşulsuz Adalet Hareketi) seit dem 27. November Woche für Woche vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zusammen, um die Menschenrechtslage in der Türkei zu thematisieren. Das Motto dabei lautet „Harekete geç!“, was so viel bedeutet wie „Engagier dich“ oder „Setz dich in Bewegung“. Spätestens mit ihrer Mahnwache zum „Tag des bedrohten Anwalts” am 24. Januar sollte der Bewegung endlich ihr wohlverdienter Platz in der internationalen Berichterstattung eingeräumt werden. Die Initiative, die sich hauptsächlich aus jungen Menschenrechtsverteidiger*innen mit verschiedenen Hintergründen zusammensetzt, kritisiert den EGMR für seinen Umgang mit Verfahren aus der Türkei und fordert das Straßburger Gericht auf, seine strengen Zulässigkeitsanforderungen zu durchbrechen. Vom Europarat fordert die Bewegung konkrete und vor allem wirkungsvolle Mechanismen, um Ankara zur Umsetzung hunderter nicht beachteter Urteile zu bewegen.

An die Richter*innen des EGMR werden jährlich tausende Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen aus der diktatorisch geführten Türkei herangetragen, aber regelmäßig mit Verweis auf die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs abgewiesen. Für die „Bewegung für bedingungslose Gerechtigkeit“ klingt das mehr als zynisch, stellt sie ja gerade in Zweifel, dass in der Türkei überhaupt von einem funktionierenden Rechtsstaat gesprochen werden kann. Das „repressive Regime” setze alle Teile der Gesellschaft, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft oder politischen Meinung, unter Druck. Deshalb will die Gruppe erreichen, dass der EGMR sich nicht länger hinter Formalien versteckt und die Hürden für Fälle aus der Türkei senkt. „Darauf zu warten, dass sich die Justiz, die jeden Tag irreparablen Schaden anrichtet, von selbst erholt, wird keine anderen Folgen haben, als das Ausmaß des Schadens zu verschlimmern”, unterstreichen die Mitglieder.

Foto: Salih Gergerlioğlu

In der Türkei befinden sich derzeit mindestens 146 Anwältinnen und Anwälte als Untersuchungs- oder Strafgefangene in Haft. Doch auch sie konnten bislang nicht zum EGMR durchdringen. Um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, legten die Aktivist*innen der Gerechtigkeitsbewegung bei ihrer Mahnwache 146 rote Nelken vor dem Straßburger Menschenrechtsgericht und einen schwarzen Kranz nieder. Zudem wurden Botschaften von inhaftierten Kolleg*innen verlesen, darunter auch ein Statement des ÇHD-Vorsitzenden Selçuk Kozağaçlı. „Die Würde der Anwaltschaft wird von denjenigen verteidigt, die sich widersetzen. Solange es die widerständigen Anwälte gibt, werden sie [die Herrschenden] keinen Erfolg haben. Wir werden uns niemals ergeben, diese Zeit wird vorbeigehen und wir werden gewinnen“, ließ Kozağaçlı ausrichten.

Symbolisches Datum der Mahnwache

Der Gedenktag für die verfolgte Anwaltschaft geht zurück auf den 24. Januar 1977, bei dem vier spanische Gewerkschaftsanwälte und ein Mitarbeiter in ihrer Kanzlei in der Calle Atocha in Madrid wegen der Ausübung ihrer rechtsanwaltlichen Tätigkeit von einem Neofaschisten ermordet wurden. Viele kennen diesen Tag auch als das „Massaker von Atocha“. Im Gedenken daran riefen Europäische Anwaltsvereinigungen im Jahr 2011 den 24. Januar als „Tag des bedrohten Anwalts” ins Leben. Seitdem stand die Türkei mehrmals im Zentrum dieses Gedenktages, da die Situation für Anwältinnen und Anwälte dort nie einfach war. In der dunklen Phase der 1990er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung besonders blutig war und „Morde unbekannter Täter“ zur Tagesordnung gehörten, waren unter den zu tausenden „verschwunden gelassenen“ und zu Unrecht inhaftierten Menschen auch viele Rechtsanwält*innen. Aber auch in den nachfolgenden Jahren gab es nie eine vergleichsweise sichere Phase für die Anwaltschaft, die sich für politisch Verfolgte einsetzt; im Gegenteil, Angriffe gegen Anwältinnen und Anwälte setzten sich weitgehend ungebrochen fort.

Foto: Salih Gergerlioğlu

Staatliche Kriminalisierung von legaler Verteidigungstätigkeit

Heute brauchen immer mehr Rechtsanwält*innen in der Türkei selbst Verteidiger*innen, weil sie ihrer Pflicht, Mandant*innen in Strafverfahren zu verteidigen, nachkommen. Ihr Einsatz wird von der Regierung als Bedrohung wahrgenommen. Die Anklagevorwürfe beziehen sich in weiten Teilen auf die rechtsanwaltliche Tätigkeit der Angeklagten. So waren im November 2011 bei dem bislang zahlenmäßig größten Angriff auf die Anwaltschaft in der Türkei insgesamt 46 kurdische Anwält*innen der Kanzlei Asrin im Zuge des „KCK-Verfahrens“ allein deshalb verhaftet worden, weil sie Abdullah Öcalan verteidigt haben. Im Januar 2013 kam es zu einem weiteren Großeinsatz der türkischen Justiz, diesmal gegen den Verein progressiver Jurist*innen (ÇHD). 22 Mitglieder, darunter Selçuk Kozağaçlı und die im vergangenen August an den Folgen eines monatelangen „Todesfastens“ für ein gerechtes Verfahren gestorbene Ebru Timtik, wurden unter dem Vorwurf inhaftiert, ihren Mandant*innen geraten zu haben, ihr verfassungsmäßiges Recht der Aussageverweigerung wahrzunehmen. Nach diesen beiden Masseninhaftierungen lief im Frühjahr 2016 eine weitere Operation gegen die kurdische Anwaltschaft. In deren Folge wurden Ayşe Acinikli und Ramazan Demir von der Vereinigung freiheitlicher Jurist*innen (ÖHD) für mehr als sechs Monate inhaftiert.

Repressionsinstrumente: Antiterrorgesetze, 301, 216

Der Hebel für die Strafverfolgung von Anwält*innen in der Türkei ist in erster Linie die Antiterrorgesetzgebung, die der Regierung als wichtigstes Repressionsinstrument dient, unliebsame Stimmen zu kriminalisieren. Hinzu kommt Artikel 301 des Strafgesetzbuches, der das öffentliche Herabsetzen der türkischen Nation, des Staates oder der Regierung, aber auch etwa der Justizorgane unter Strafe stellt. Daneben spielt auch Artikel 216, der das öffentliche Anstacheln zu Hass bestraft, eine wichtige Rolle. Vor allem seit dem Putschversuch vom Juli 2016 geht die Regierung wieder massiv und systematisch gegen die Anwaltschaft vor.