Seit 39 Tagen findet in türkischen Gefängnissen ein neuer Hungerstreik statt. In Gruppen von 200 bis 300 Gefangenen haben sich bisher etwa 2.500 Gefangene an jeweils fünftägigen Hungerstreikschichten beteiligt. Die Gefangenen fordern eine Aufhebung der Isolation des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan und ein Ende der mit der Corona-Pandemie verschärften, lebensbedrohlichen Haftbedingungen. Der Gefangenenhilfsverein CISST (Zivilgesellschaft für den Strafvollzug) befasst sich mit der Situation der Gefangenen. Berivan Korkut, Koordinatorin für die Rechtsvertretung des Vereins, hat sich zur Situation der Gefangenen geäußert.
Gefangene dürfen seit Beginn der Pandemie nicht mehr die Zellen verlassen
Berivan Korkut berichtet von deutlich verschlechterten Haftbedingungen seit Beginn der Pandemie. So wandten sich viele Gefangene und Angehörige aufgrund von Rechtsverletzungen an den Verein. Korkut berichtet, dass die Gefangenen seit Beginn der Pandemie bis heute nicht mehr aus den Zellen gelassen werden: „Es ist verständlich, Vorsichtsmaßnahmen gegen die Pandemie zu treffen. Doch die Rechte der Gefangenen sollten auch bei solchen Präventionsmaßnahmen gewahrt werden. Die Isolation der Insassen führt einem die eigentliche Lage deutlich vor Augen. Wir wissen, dass es Gefangene gibt, die seit einem Jahr nicht aus ihren Zellen gelassen wurden. Dies wirkt sich zusammen mit der Einstellung sämtlicher Aktivitäten für die Gefangenen sehr negativ aus.“
Hungerstreik und Pandemie: Doppeltes Risiko
Korkut zeigt sich besorgt über den Hungerstreik. „Die aktuellen Hungerstreiks sind anders als die vorherigen”, erklärt sie. „Sie begannen und finden unter den Bedingungen einer Pandemie statt. Bei vorherigen Hungerstreiks hatten Mediziner feststellen können, wann die Probleme für bestimmte Gruppen beginnen würden. Aber heute geben die Mediziner vor dem Hintergrund der Pandemie sehr ernste Warnungen ab. Sie warnen insbesondere in Bezug auf das Immunsystem, dass ein Hungerstreik in dieser Zeit zweimal so gefährlich sei wie zuvor.“
Dialogappell
„In der Türkei haben viele Menschen in Hungerstreiks im Gefängnis ihr Leben verloren“, sagt Korkut und fügt an: „Seit den 1980er Jahren sind Hungerstreiks eine häufig angewandte Methode des Widerstands. Aber mit den Hungerstreiks konnten wir auch sehen, dass, wenn ein Dialog hergestellt wird, die Probleme gelöst werden können. Unter Berücksichtigung der Pandemie fordern wir, dass ein Dialog stattfindet, dass die Probleme der Gefangenen gelöst werden, ohne dass jemand sein Leben verliert oder durch den Hungerstreik bleibende Schäden davonträgt. Wir wollen nochmals unsere große Sorge betonen und die gesamte Öffentlichkeit und die Verantwortlichen zur Auseinandersetzung mit der Lage aufrufen.“
Imrali ist Ausdruck der Lage
Auch die Ko-Vorsitzende des Istanbuler Büros des Menschenrechtsvereins IHD, Güseren Yoleri, wie auch Erdal Güzel, Vorsitzender des Anatolien-Büros der Gesundheitsgewerkschaft SES, nahmen Stellung zu den Aktionen. Yoleri warnt, die Isolation in den Gefängnissen habe sich vor dem Hintergrund der Pandemie deutlich verschärft. Die Beschränkungen der Gefangenen hätten nichts mit der Pandemieprävention zu tun. Zur Forderung nach Aufhebung der Isolation auf Imrali sagt die Menschenrechtlerin: „Wir sehen, dass die Isolation auf Imrali in einem direkten Zusammenhang mit vielen Problemen steht. Wer Frieden, Demokratie, Gerechtigkeit will, muss sich mit der Isolation auf Imrali beschäftigen. Denn Imrali ist in diesem Sinne ein Indikator. Während des Lösungsprozesses hob der Staat die Isolation in Imrali auf und wandte sich Frieden und Demokratie zu. Mit dem Ende dieses Prozesses begann die Isolation von neuem. Daher steht die Isolation auf Imrali in direktem Zusammenhang mit dem Frieden in der Türkei. Darin ist auch der Grund zu sehen, warum die Gefangenen die Aufhebung der Isolation auf Imrali fordern.“
Rechtsverletzungen bleiben nicht auf Gefängnisse beschränkt
„Wenn es Folter und Isolation in Gefängnissen gibt, dann gibt es auch Folter und Isolation draußen“, stellt Yoleri fest und betont: „Wenn wir das Gesamtbild der Türkei betrachten, dann wird dies sehr klar. In diesem Sinne spiegeln die Gefängnisse die Lage draußen wider. Das Leben drinnen ist ein Teil des Lebens draußen. Das, was drinnen passiert, wird uns auch draußen angetan. In diesem Sinne müssen die Aktionen drinnen als Teil des sozialen Kampfes draußen bewertet werden. Hieraus entsteht soziale Sensibilität. Wenn wir für die Verhinderung von Folter und Isolation in den Gefängnissen kämpfen, bedeutet das eigentlich, dass wir für die Befreiung der gesamten Gesellschaft von Isolation und Folter kämpfen. Daher ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen dem Protest drinnen und den gesellschaftlichen Fragen draußen herzustellen. Deswegen muss sich die Gesellschaft mit dem Hungerstreik auseinandersetzen. Die Gesellschaft muss das tun, um ihre eigenen Probleme anzugehen."
Aktionen sind absolut notwendig
Der Gewerkschafter Erdal Üzel sagt: „Diese Haltung der Menschen im Hungerstreik gegen die Haltung der Regierung ist wertvoll und bedeutsam. Corona ist eine sehr ernste Pandemie. Das Virus verursacht schwere Schäden im menschlichen Körper. Hungerstreiks schwächen das Immunsystem. So kann die Pandemie den Tod vieler Menschen in schneller Folge verursachen. Die Hauptsache hier war, Gefängnisse während der Pandemie zu evakuieren. Die Hauptaufgabe des Staates ist es, die Menschen am Leben zu erhalten. Alle politischen Gefangenen in den Gefängnissen müssen sofort freigelassen werden."