„Die Gefangenen in ihrem Kampf nicht allein lassen“

Politische Gefangene in der Türkei sind seit über zwei Wochen im Hungerstreik. Sie fordern die Aufhebung der Isolation Abdullah Öcalans. Rechtsanwalt Mehmet Nuri Deniz sieht die Zivilgesellschaft in der Pflicht.

Seit über zwei Wochen sind politische Gefangene aus PKK- und PAJK-Prozessen in der Türkei wieder im Hungerstreik. Die seit knapp 22 Jahren andauernde Isolation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan ist mehrfach durch Hungerstreiks durchbrochen worden. Auch während der Verhandlungen mit dem türkischen Staat über eine Lösung der kurdischen Frage gab es Lockerungen. Zurzeit herrscht wieder eine Totalisolation. Zivilgesellschaftliche Organisationen in der Türkei haben in den letzten beiden Jahrzehnten wenig nennenswerte Initiativen für die Aufhebung der Isolation angestoßen.

Eine der Organisationen, die sich immer wieder zu dem Thema geäußert und an entsprechenden Kampagnen teilgenommen haben, ist der Freiheitliche Juristenverein (ÖHD). Rechtsanwalt Mehmet Nuri Deniz ist Vorstandsmitglied des Vereins und hat sich in Amed gegenüber ANF zur Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen geäußert.

Mehmet Nuri Deniz verweist auf das im Inselgefängnis Imrali herrschende Vollzugssystem, das einem speziellen Regime untersteht. Abdullah Öcalan wird nicht nur auf einer Insel von der Öffentlichkeit und persönlichen Kontakten abgeschottet, sondern auch weitgehend von seinen drei Mitgefangenen isoliert, so der Rechtsanwalt:

„Auch der Zivilgesellschaft fallen bei diesem Thema Aufgaben zu, die sie erfüllen muss. Bekanntlich hat Herr Öcalan wie alle anderen Gefangenen Rechte, die gesetzlich vorgeschrieben sind. Dazu gehört beispielsweise das Recht auf Besuch und telefonischen Kontakt mit seinen Anwälten und Angehörigen. Darüber hinaus liegt ein Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor, das Isolation als Folter wertet. Auch der letzte Bericht des Antifolterkomitees des Europarates bestätigt die Isolation auf Imrali. Diese juristischen Feststellungen und die Gesetze werden jedoch nicht umgesetzt. Im Moment gibt es weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene eine Stelle, die dafür sorgen würde. Im Grunde genommen gibt es gar kein Rechtssystem. Eine Justiz, die keine Sanktionsmöglichkeiten hat, ist faktisch nicht vorhanden. Ohne ein Rechtssystem kann es auch keine Gerechtigkeit und Freiheit geben. Was die Zivilgesellschaft also tun muss, ist für Gerechtigkeit und Freiheit zu kämpfen.“

Zivilgesellschaftliches Engagement bedeute in erster Linie, eine Öffentlichkeit herzustellen, führt Rechtsanwalt Deniz weiter aus: „Gleichzeitig geht es darum, staatliche Entscheidungen zu beeinflussen, indem gesellschaftliche Forderungen unterstützt werden und ein Dialog für eine Einigung initiiert wird. Leider weisen die zivilgesellschaftlichen Organisationen bei diesem Thema Defizite auf. Dass die Zivilgesellschaft so passiv bleibt, liegt an unter anderem an der bestehenden Atmosphäre der Angst und Repression, aber auch an dem ideologischen Einfluss des Staates. Zum Thema Isolation muss eine Koordination zwischen Organisationen aus dem rechtlichen und gesundheitlichen Bereich aufgebaut werden. Eine Delegation dieser Organisationen sollte dann nach Imrali fahren, um die Gesundheit und die Haftbedingungen vor Ort zu untersuchen. Ein Schwerpunkt der Öffentlichkeitsarbeit muss auf die Tatsache gelegt werden, dass die Isolation aus der kurdischen Frage resultiert und ein Zusammenhang mit den grundlegenden Problemen in der Türkei besteht.“

Für die Öffentlichkeitsarbeit und Initiativen im In- und Ausland liegen ausreichend Informationen und konkrete Daten vor, betont Deniz: „Dazu zählen die vom EGMR und vom CPT festgestellten Rechtsverletzungen und das Kontaktverbot von Herrn Öcalan gegenüber seinen Anwälten und Angehörigen. An mangelnden Informationen liegt es also meiner Meinung nach nicht, wenn es zu wenige Initiativen gibt. Das Verteidigerteam von Herrn Öcalan schöpft alle Rechtsmittel aus, aber die Anwendung des Rechts kann nur im gemeinsamen Kampf mit der Gesellschaft durchgesetzt werden. Wir denken, dass das Problem nur so bewältigt werden kann. Insbesondere Rechtsorganisationen müssen einen gesamtheitlichen Umgang mit dem Problem finden. In dem Wissen, dass die grundlegenden Probleme in der Türkei aus der Isolation und der kurdischen Frage resultieren, muss auch an einer neuen Verfassung gearbeitet werden. Das müssen sich juristische Organisationen auf die Agenda setzen. Ich persönlich gehe jedoch nicht davon aus, dass eine solche Arbeit ohne die Freilassung von Öcalan Erfolg haben kann.“

Rechtsanwalt Mehmet Nuri Deniz appelliert zum Schluss hinsichtlich des Hungerstreiks in den Gefängnissen an die organisierte Zivilgesellschaft: „Der Hungerstreik politischer Gefangener mit der Forderung nach Aufhebung der Isolation läuft jetzt seit über 15 Tagen. Die Bedingungen in den Gefängnissen sind ohnehin sehr schwer und mit der Pandemie noch schwerer geworden. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen müssen sich auch zu diesem Thema um einen Dialog bemühen. Die Gefangenen dürfen in ihrem Kampf nicht allein gelassen werden.“