Dutzende Anwälte in Amed festgenommen

In Amed sind mindestens zwanzig Anwältinnen und Anwälte festgenommen worden. Nach insgesamt 101 Personen wird gefahndet, etwa 70 sind bereits festgenommen.

Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen den Demokratischen Gesellschaftskongress (Kongreya Civaka Demokratîk, KCD) sind in Amed (türk. Diyarbakir) Dutzende Menschen festgenommen worden, darunter mindestens 20 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte. Polizisten stürmten Wohnungen und beschlagnahmten Computer, Bücher und Speichermedien. Weitere Razzien fanden in Şirnex (Şırnak) und Semsûr (Adıyaman) statt. Nach insgesamt 101 Personen wird gefahndet, etwa 70 sind bereits festgenommen.

Von folgenden Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sind die Namen bekannt: Bünyamin Şeker (Ko-Vorsitzender des Freiheitlichen Juristenvereins ÖHD), Abdulkadir Güleç, Eshat Aktaç, Serdar Talay, İmran Gökdere, Diyar Çetedir, Serdar Özer, Feride Laçin, Gevriye Atlı, Resul Tamur, Cemile Turhallı Balsak, Ahmet Kalpak, Devrim Barış Baran, Neşet Girasun, Sedat Aydın, Şivan Cemil Özen, Bülent Temel (Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD in Semsûr) und Mahsum Batı. Einigen von ihnen werde unter anderem auch vorgeworfen, Mitglied in dem 2016 per Notstandsdekret verbotenen Verein der Juristen aus Mesopotamien (Mezopotamya Hukukçular Derneği) gewesen zu sein.

Außerdem wurden zahlreiche Vorstandsmitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen festgenommen, darunter Diyar Dilek Özer und Leyla Ayaz von der Gefangenenhilfsorganisation TUHAD-FED, Şehmus Gökalp (Arzt und ehemaliges Vorstandsmitglied der Ärztevereinigung TTB), Süleyman Okur (DIVES), Panayır Çelik (HDP), Yilmaz Kan (GÖÇ-DER), Ilhami Yürek (HDP), Ümit Çetiner (SES), Mehmet Kaçar (HABER-SEN), Haknas Sadak und Roza Metina (Redakteurin der Frauennachrichtenagentur JinNews).

Hintergrund: Was will die Regierung vom KCD?

Der Demokratische Gesellschaftskongress fungiert als Dachverband politischer Parteien, zivilgesellschaftlicher Organisationen, religiöser Gemeinden sowie Frauen- und Jugendorganisationen. Er versteht sich als gesellschaftlicher Gegenentwurf zu staatlichen Strukturen, der – gestützt auf Räte- und Basisdemokratie – Konzepte zur Selbstorganisierung der Bevölkerung und Alternativen der kommunalen Selbstverwaltung erarbeitet. Der KCD besteht aus etwa 1000 Delegierten, von denen 60 Prozent durch die Bevölkerung direkt gewählt und 40 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Organisationen benannt werden, und ist in Kommissionen gegliedert. Sowohl innerhalb des Dachverbands wie auch in den Stadtteilräten und Stadträten gibt es keine Frauenquote, sondern eine Geschlechterquote. Das bedeutet, dass der Anteil von Frauen beziehungsweise Männern 40 Prozent nicht unterschreiten darf.

Von Öcalan für demokratische Gesellschaftsorganisierung vorgeschlagen

Bereits im Jahr 2005 von Abdullah Öcalan als Projekt für die demokratische Organisierung der Gesellschaft vorgeschlagen, wurden zunächst große Diskussionsveranstaltungen durchgeführt, bis im Folgejahr die erste Vollversammlung organisiert wurde. Am 14. Juli 2011 fand in Amed ein Kongress mit über 800 Teilnehmenden aller ethnischen, politischen und religiösen Strukturen in Kurdistan statt. An die gemeinsame Erklärung der Versammlung anschließend wurde die Demokratische Autonomie ausgerufen. In dem veröffentlichten Modellentwurf werden acht Dimensionen aufgeführt: die politische, die juristische, die der Selbstverteidigung, die kulturelle, die soziale, die wirtschaftliche, die ökologische und die diplomatische. Die Satzung richtet sich nicht nach den Gesetzen der Türkei, sondern nimmt die demokratische Teilhabe der Bevölkerung als Grundlage.

Langjährige Zusammenarbeit der Regierung mit KCD beim Lösungsprozess

Obwohl der KCD als höchstes Gremium der Demokratischen Autonomie unmittelbar nach seinem Gründungskongress kriminalisiert und mit Ermittlungsverfahren überzogen wurde, arbeitete die türkische Regierung zwischen 2005 und 2014 intensiv mit dem Dachverband zusammen, um gemeinsam den damals möglichen Friedensprozess zu verhandeln. Der KCD wurde von der AKP sogar gebeten, an einer neuen Verfassung für die Türkei mitzuarbeiten. Der damalige Ko-Vorsitzende Hatip Dicle gehörte zudem zur sogenannten „Imrali-Delegation“, die im Rahmen des Lösungsprozesses eine Vermittlerrolle zwischen Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung eingenommen hatte. Auch nachdem der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdoğan im Sommer 2015 die Friedensverhandlungen einseitig abbrach, wurde der KCD nicht verboten.