Erbaş: Kanäle für Lösung der kurdischen Frage entsperren

„Wenn es tatsächlich um Reformen in der Türkei gehen würde, wäre der erste Schritt, die Kanäle für eine Lösung der kurdischen Frage zu entsperren. Das bedeutet, das Folter- und Isolationsregime auf Imrali abzuschaffen“, fordert Öcalan-Anwalt Doğan Erbaş.

Gegen Abdullah Öcalan und seine drei Mitgefangenen Ömer Hayri Konar, Veysi Aktaş und Hamili Yıldırım im türkischen Inselgefängnis Imrali sind neue Sanktionen verhängt worden. Die Hintergründe sind noch völlig unklar, die Generalstaatsanwaltschaft von Bursa verwies am Freitag in ihrer Ablehnung auf einen Besuchsantrag von Angehörigen der Gefangenen lediglich auf Disziplinarstrafen, die bereits am 30. September verhängt worden seien. Eine Woche zuvor war bereits dem Anwaltsteam der Imrali-Gefangenen ein sechsmonatiges Besuchsverbot für die Insel im Marmarameer erteilt worden. Die Anordnung erfolgte auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft durch das Vollzugsgericht in Bursa. Begründet wird das Verbot mit den Disziplinarstrafen gegen die Gefangenen in den Jahren 2005 bis 2009 und der 2009 von Öcalan verfassten „Roadmap für Verhandlungen“, die dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als Verteidigungsschrift vorgelegt wurde.  

Um Kontakte der Imrali-Gefangenen zu ihrer Außenwelt zu verhindern, sind wiederholt ähnliche Beschlüsse gefasst worden. Die Insel ist ein rechtsfreier Raum und juristisches Niemandsland. Seit der Verschleppung Öcalans im Jahr 1999 aus Kenia in die Türkei und seiner Inhaftierung auf Imrali spiegelte sich in der Behandlung des PKK-Gründers stets die Haltung des türkischen Staates zur kurdischen Frage und zum Umgang mit anderen gesellschaftlichen Konflikten. Der heute 71-Jährige wird einem Folter- und Isolationsregime unterworfen, das man grob gesagt mit Abschottung, Willkür und systematischen Menschenrechtsverletzungen übersetzen kann. Elf Jahre war er der einzige Häftling auf Imrali – bewacht von mehr als tausend Soldaten. Zwischen Juli 2011 und Mai 2019 wurde ihm jeglicher Rechtsbeistand verwehrt. Öcalan hält so den „Europa-Rekord“ für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Erst eine von der Politikerin Leyla Güven im Herbst 2018 initiierte Hungerstreikbewegung hatte es ermöglicht, dass die Isolation auf Imrali – wenn auch nur vorübergehend – durchbrochen werden konnte. Auch aktuell setzt der türkische Staat wieder auf die Totalisolation Abdullah Öcalans. Zum letzten Mal konnte er im August 2019 Besuch von seinem Bruder und seinem Rechtsbeistand empfangen. Bis auf einen bislang einmaligen telefonischen Kontakt zu Familienangehörigen im April herrscht wieder Funkstille.

Erbaş: Öcalans Behandlung Gradmesser für Haltung gegenüber Gesellschaft

Der Rechtsanwalt und HDP-Politiker Doğan Erbaş, der zu den ersten Verteidigern Abdullah Öcalans gehört und sich bestens mit dem breiten und vielfältigen Methodenspektrum des Folterregimes auf Imrali auskennt, findet es notwendig, das dortige Isolationssystem in juristische und politische Teile aufzugliedern. „Rein rechtlich gesehen stehen die Gefängnisbedingungen auf Imrali im Widerspruch mit den türkischen und internationalen Gesetzen und sind rein willkürlicher Natur. Es handelt sich bei Imrali faktisch um ein Folterlabor. Ein Blick auf die vergangenen 21 Jahre lässt dies nur zu gut erkennen.“ In dieser Zeit wurde in der Türkei ein ganzes Bündel an Sondergesetzen und Regelungen eingeführt, die von den Verteidigerinnen und Verteidigern des kurdischen Vordenkers als Öcalan-Gesetze bezeichnet werden. Einerseits gibt es mehrere Gesetzesänderungen, die exklusiv für Öcalan produziert wurden und nur gegen ihn angewandt werden. Andererseits enthält das türkische Rechtssystem mittlerweile einige dieser Öcalan-Gesetze als Rechtsvorschriften, die auf alle anderen Haftanstalten übergreifen. Insbesondere geht es dabei um Maßnahmen wie das Verbot des Rechtes auf einen Anwalt, die zeitliche Einschränkung von Mandantengesprächen, die Anwesenheit eines Beamten bei der Durchführung der anwaltlichen Konsultation, die Unterschlagung von Dokumenten sowie die audiovisuelle Aufzeichnung von Mandantengesprächen. Obwohl der Großteil dieser Maßnahmen keine rechtliche Grundlage hatte, wurden diese Maßnahmen bei allen zwischen Juni 2005 und Juli 2011 stattgefundenen Mandantengesprächen mit Öcalan angewandt. Die Tatsache, dass die genannten Maßnahmen ab Juli 2016 vor dem Hintergrund des Ausnahmezustandes mit dem Erlass von Notstandsverordnungen legalisiert worden sind, verdeutlicht den Umstand, dass sich Imrali folglich stets kontinuierlich im ungesetzlichen Ausnahmezustandsstatus befunden hat. „Aus diesem Blickwinkel betrachtet können wir zudem festhalten, dass Öcalans Behandlung ein präziser Gradmesser für die Haltung des türkischen Staates sowohl den politischen Gefangenen gegenüber als auch der Gesellschaft ist”, sagt Erbaş und verweist auf die Einführung der als Typ-F-Gefängnisse bezeichneten Hochsicherheitsgefängnisse, zu denen auch das Inselgefängnis auf Imrali gehört.

Rechtsanwalt Doğan Erbaş (Jahrgang 1964) saß selbst bereits etwa zwei Jahre im Gefängnis

Die Typ-F-Gefängnisse – mit anderen Worten Isolationsgefängnisse – sind in erster Linie zur Unterbringung von Mitgliedern politischer Organisationen erbaut worden, die nach den sogenannten Antiterrorgesetzen verurteilt wurden. Bis zur Einführung dieser ab dem Jahr 2000 eröffneten Gefängnisse mit einem Zellensystem mit Einzel- und kleineren Gemeinschaftszellen wurden Strafgefangene in der Türkei in kasernenähnlichen Hafträumen mit 20 bis 100 Personen untergebracht. Dies bot in erster Linie politischen und vor allem linken Bewegungen die Möglichkeit, ihren organisatorischen Zusammenhalt auch im Gefängnis aufrechtzuerhalten. Auch aus diesem Grund bestimmte Artikel 78/B der alten Strafvollzugsordnung, dass besserungsunwillige oder aufständische Verurteilte mit Genehmigung des Justizministeriums in spezielle Vollzugsanstalten mit Einzel- oder Gemeinschaftshafträumen für je drei Gefangene verlegt werden konnten.

Prototyp für Isolationsgefängnisse: Imrali

Auch wenn Ende der achtziger Jahre eine Haftanstalt in der zentralanatolischen Stadt Eskişehir nach der Entdeckung von Fluchttunneln geräumt und nach einem Umbau als „Sondertyp“ mit zusätzlichen Einzelhafträumen wieder in Betrieb genommen wurde, gilt das Inselgefängnis Imrali als Prototyp der Isolationsgefängnisse. Erst nach Ende des Prozesses gegen Abdullah Öcalan im Juni 1999 konkretisierten sich die Pläne der türkischen Regierung, den Übergang zum Zellensystem zu vollziehen. Beim Zellensystem in den Typ-F-Gefängnissen geht es im Wesentlichen darum, die Gefangenen in absoluter Stille und Gleichförmigkeit zu individualisieren, so dass sie zwischen weißen Wänden isoliert sind. Diese perfiden Isolationsregime sind direkt darauf ausgerichtet, Häftlinge an die Einsamkeit zu gewöhnen. Sowohl die soziale als auch die sensorische Isolation ist hier institutionalisiert.

Als sich Mitte des Jahres 2000 in der Türkei die Diskussion um die Typ-F-Gefängnisse verschärfte, starteten am 20. Oktober insgesamt 1.150 politische Gefangene in 48 Haftanstalten einen Hungerstreik, um die Einführung der Isolationsgefängnisse zu verhindern. Nach 45 Tagen wurde der Hungerstreik in ein Todesfasten umgewandelt. In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 stürmten 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Gendarmen, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, unter dem zynischen Namen „Operation Rückkehr ins Leben“ 20 türkische Gefängnisse. Die Bilanz nach neun Stunden: 32 Gefangene wurden getötet, Hunderte weitere verletzt. Insgesamt 34 Menschen gelten bis heute als offiziell „verschwunden“. Doch eine ähnliche Aktion hatte schon im Jahr 1996 stattgefunden. Im Widerstand gegen die Einführung von Isolationshaft traten am 20. Mai 1996 etwa 2.000 Gefangene in über 50 Gefängnissen in einen unbefristeten Hungerstreik, der ab Juli von 269 Gefangenen in ein Todesfasten umgewandelt wurde. Am 25. Juli schlossen sich rund 10.000 kurdische Gefangene an. Fünf von ihnen wurden im Gefängnis von Uşak von faschistisch-mafiösen Gefangenen unter Duldung der Gefängnisleitung ermordet. Zwischen dem 63. und 69. Tag starben zwölf weitere Gefangene, allein zehn von ihnen – allesamt PKK-Gefangene – wurden im Typ-E-Gefängnis in Amed (Diyarbakir) durch Metallstäbe und Knüppel getötet, weitere 24 Inhaftierte wurden schwerverletzt. Nach 69 Tagen, am 28. Juli 1996, gab der türkische Staat bekannt, die Forderungen der Gefangenen zu erfüllen und sie nicht in Einzelhaft unterzubringen. | Foto: Die Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer

 

Das hat mittlerweile auch das Antifolterkomitee des Europarats (CPT) erkannt. Im August veröffentlichte das Straßburger Gremium zwei Berichte über die Türkei, und zwar über den periodischen Besuch 2017 und den Ad-hoc-Besuch 2019, und übte scharfe Kritik an den Missständen in türkischen Gefängnissen und Polizeistationen. Das CPT kritisierte speziell auch die Haftbedingungen auf Imrali. Die erschwerte Isolation in dem Inselgefängnis sei nicht akzeptabel, die Zustände dort „dürftig“. Die Türkei müsse die Regeln für Insassen mit verschärften lebenslangen Haftstrafen grundsätzlich überarbeiten, denn das System sei „fundamental fehlerbehaftet“.  

Doğan Erbaş findet es bitter, dass 21 Jahre vergehen mussten, bis das Antifolterkomitee das Unrecht auf Imrali so offen ausgesprochen hat. Die türkische Regierung hatte den Bericht umgehend zurückgewiesen. Es gäbe keine systematischen Misshandlungen Gefangenen, weder auf Imrali noch in anderen Vollzugsanstalten oder Polizeiwachen. „Daher wäre es mehr als wünschenswert, wenn den Worten des Antifolterkomitees endlich auch Taten folgten. Aktuell wird dem Anwaltsteam von Abdullah Öcalan mit Verweis auf seine vor elf Jahren als zusätzliche Eingabe beim EGMR vorgelegte Roadmap der Kontakt zu seinem Mandanten verwehrt.” Dies sei kafkaesk, meint der Jurist und fährt fort: „Das CPT und der Europarat nehmen eine äußerst zögerliche und zurückhaltende Rolle ein, wenn es darum geht, das Notwendige zu tun. Das Gleiche gilt allgemein für Europa und in erster Linie für die Bundesrepublik Deutschland. Das wirtschaftliche Wohlergehen mit der Türkei ist wesentlicher als durch eigene Institutionen angesprangerte Missstände aus dem Weg zu räumen. Wirksame Mechanismen werden nicht in Bewegung gesetzt”, kritisiert Erbaş.

Isoliert wird die „Imrali-Haltung“

Abdullah Öcalan gilt als einer der wichtigsten politischen Repräsentanten der Kurdinnen und Kurden. Seit seiner Verschleppung aus Kenia und dem folgenden Schauprozess und der Verurteilung zum Tode – umgewandelt in lebenslange Haft ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung – bemüht er sich für eine politische Lösung der kurdischen Frage. Öcalan selbst nennt dies die „Imrali-Haltung“. Im Mittelpunkt steht die Absicht, die türkisch-kurdischen Beziehungen demokratisch neuzugestalten und eine neue Republik ins Leben zu rufen, in der die kurdische Gesellschaft als Volk anerkannt wird, und auf diese Weise einen nachhaltigen Frieden zu schaffen. Nach Öcalan handelt es sich bei der Imrali-Haltung um ein politisches Subjekt. Der Zustand dieses politischen Subjekts sei grundlegend für die Bemühungen um eine demokratische Lösung und einen würdevollen Frieden.

„Mit dieser Haltung hat er stets neue Perspektiven entwickelt und Lösungsansätze für bestehende Probleme und einen gesellschaftlichen Frieden geschaffen. Im Grunde gilt als Schlüsselfigur für die Lösung aller Probleme in der Türkei. Aus diesem Blickwinkel betrachtet können wir sagen, dass auf Imrali nicht lediglich eine Person von ihrer Außenwelt abgeschottet wird. Mit der Imrali-Haltung wird der Wille zum Frieden und die Hoffnung auf eine politisch-demokratische Lösung der Konflikte isoliert“, sagt Doğan Erbaş. An diesem Punkt zeige sich, dass juristische Entscheidungen hinsichtlich der Insel und damit auch der Gesellschaft immer auf einem politischen Boden stehen.

Reformankündigungen nur politisches Kalkül

Gefragt nach seiner Meinung über die versöhnlichen Botschaften Erdoğans an Europa und Ankündigungen über rechtsstaatliche Reformen gibt Erbaş zu verstehen, dass dies nur politisches Kalkül sei. „Diese Taktik ist ein Zeichen dessen, dass die vielen Krisen Erdoğan enorm zu schaffen machen, und spiegelt im Prinzip seine Not wider. Unserer Meinung nach gibt es zwei Gründe für den vermeintlichen Wandel: Einerseits will Erdoğan Sanktionen gegen die Türkei vermeiden, die bei der Innenministerkonferenz am 10. und 11. Dezember von der EU geprüft werden. Andererseits wird der Rückhalt von Erdoğans AKP in der Gesellschaft wie auch in der Politik immer kleiner – dadurch steht die Regierung vor einer tiefen Legitimitätskrise. Wenn es tatsächlich um Reformen gehen würde, wäre der erste Schritt, die Kanäle für eine Lösung der kurdischen Frage zu entsperren. Das bedeutet in erster Linie, das Folterregime auf Imrali und die Isolation abzuschaffen. Denn dort liegt der Schlüssel für eine politische, friedliche Lösung der ungelösten Probleme. Dies ist der Wille eines großen Teils der Bevölkerung in diesem Land. Allerdings hat der Schulterschluss zwischen der AKP und MHP in den letzten Jahren dazu geführt, dass ein erheblicher Teil der erzkonservativen Basis von Erdoğans Partei sich mittlerweile als ultranationalistisch erweist. Dies stellt eine große Gefahr für die Zukunft der Türkei dar.”