Am 24. September 1996 ereignete sich im E-Typ-Gefängnis in der kurdischen Widerstandshochburg Amed (türk. Diyarbakir) ein Massaker an PKK-Gefangenen. Ausgeführt wurde es von Spezialeinheiten, Angehörigen der Militärpolizei (Jandarma) und Gefängniswärtern. Die Folge: Zehn durch Metallstäbe und Knüppel getötete Gefangene und 24 Schwerverletzte. Die letzte juristische Möglichkeit, die Täter für ihre Verantwortung bei dem Massaker an den politischen Gefangenen Nihat Çakmak, Rıdvan Bulut, Edip Dönekçi, Erkan Perişan, Hakkı Tekin, Ahmet Çelik, Mehmet Sabri Gümüş, Cemal Çam, Mehmet Aslan und Kadir Demir in der Türkei zur Rechenschaft zu ziehen, ist im Mai 2019 ausgeschöpft. Ein Gericht in Amed hatte das Verfahren mit Verweis auf die zeitlich bereits zu weit zurückliegenden Vorwürfe eingestellt.
Zum Hintergrund: Im Widerstand gegen die Einführung von Isolationshaft in der Türkei traten am 20. Mai 1996 etwa 2.000 Gefangene in über 50 Gefängnissen in einen unbefristeten Hungerstreik, der ab Juli von 269 Gefangenen in ein Todesfasten umgewandelt wurde. Am 25. Juli schlossen sich rund 10.000 kurdische Gefangene an. Doch auch Strafgefangene führten Solidaritätshungerstreiks durch. Fünf von ihnen wurden im Gefängnis von Uşak von faschistisch-mafiösen Gefangenen unter Duldung der Gefängnisleitung ermordet. Zwischen dem 63. und 69. Tag starben zwölf Gefangene. Nach 69 Tagen, am 28. Juli 1996, gab der türkische Staat bekannt, die Forderungen der Gefangenen zu erfüllen und sie nicht in Einzelhaft unterzubringen.
Geplantes Massaker
Doch die Forderung wurde nicht erfüllt, den Erfolg der Gefangenen konnte der Staat offenbar nicht akzeptieren. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu war im Prozess um das Massaker Anwalt der Nebenklage. Damals dokumentierte er: „Am 24. September 1996 kehrten um 10.00 Uhr 26 Gefangene des E-Typ-Gefängnisses von Diyarbakir nach einer 30-minütigen Besuchszeit, in der sie mit ihren Familien reden konnten, in die 29. Sammelzelle zurück. Im Anschluss an die Besuchszeit der ersten Gruppe verließen gegen 11.30 Uhr Gefangene aus den Zellen 18 und 29 nach Verlesung ihrer Namen die Zellen und machten sich auf den Weg in den Besuchsraum. Auf dem Hauptkorridor des Gefängnisses hielten sich 33 Gefangene auf: 20 aus der 29. Zelle, zehn aus der 18. Zelle und drei aus der Krankenstation. Während sie warteten, wollten sie die Gefangenen aus der 35. Zelle um Schüsseln für die Lebensmittel bitten, die ihre Angehörigen ihnen möglicherweise mitbringen würden. Als sie die Schüsseln beantragten und zwei Gefangene forderten, mit den Freunden aus der 35. Zelle reden zu können, reagierte der verantwortliche Oberaufseher nervös und raunzte gereizt: „Ey Mann, hier ist sprechen verboten“ und trat heftig gegen die Eisentür. Er verhielt sich auch weiterhin äußerst abweisend.
Oberaufseher: Jetzt werdet ihr schon sehen
Daraufhin schalteten sich zwei Gefangene mit den Worten ein: ‚Warum verboten? Das ist etwas, was wir immer machen. Und wenn es verboten ist, dann kann man das passend ausdrücken und sagt nicht -ey, Mann-.‘ Aus der Diskussion wurde eine Rangelei. Als gegenseitig Schläge ausgeteilt wurden, schritten andere Gefangene ein. Durch ihr Bemühen endete die Auseinandersetzung. Die Beruhigung, die durch die Intervention der Zellenverantwortlichen eingetreten war, dauerte nicht lange an, da sich der Oberaufseher mit der Bemerkung ‚Jetzt werdet ihr schon sehen‘, näherte. Genau zu diesem Zeitpunkt wurden die Türen zum Trakt der 35. und 36. Zelle geschlossen und man ließ die 33 Gefangenen auf dem Hauptkorridor im sogenannten 4. Trakt warten.
Während des qualvollen Wartens forderten die in Sorge geratenden Gefangenen, man solle sie entweder in den Besuchsraum zu ihren Angehörigen lassen oder in ihre Zellen zurückbringen. Doch diese Forderung wurde nicht erfüllt. Man ließ die Gefangenen bis 15.00 Uhr so warten. Während dieser Zeit wurden sie von der Gefängnisdirektion und den Wärtern verbal beleidigt. Dann kamen Polizisten der Mobilen Einsatzkräfte und Soldaten aus dem Bereich des Speisesaals über den Korridor auf den Trakt zu. Mit Schlagstöcken und Eisenstangen wurden die Häftlinge angegriffen und einer nach dem anderen niedergemacht. Sie wurden zu einer Zusammenarbeit als ‚Überläufer’ aufgefordert. Diejenigen, die sich weigerten, wurden in die Besucherkabinen gebracht und dort durch Schläge mit Eisenstangen, hauptsächlich auf den Kopf, brutal niedergeknüppelt. Die Folge: Neun getötete Gefangene und 24 Schwerverletzte.
Nach den Aufzeichnungen des staatlichen Krankenhauses Diyarbakir sind dort neun tote Gefangene eingeliefert worden. Nachdem der Gefängnisarzt den Verletzten, die man nicht ins Krankenhaus gebracht hatte, in seinem Bericht bestätigte, dass gegen eine Verlegung keine Einwände bestünden, wurden sie in das Gefängnis nach Gaziantep gebracht. Während des Transportes erlitten die Häftlinge in den Transportfahrzeugen weitere Folterungen. Der Gefangene Kadir Demir wurde unterwegs getötet, zwei andere Gefangene brachte man direkt in das staatliche Krankenhaus Gaziantep, wo sie sofort operiert wurden. Diese Vorfälle wurden in der Öffentlichkeit anfangs bewusst als ‚Aufstand der Gefangenen‘ und als ‚Antwort auf die Forderung männlicher Gefangener, die weiblichen Gefangenen besuchen zu können‘ dargestellt. Die Wahrheit kam jedoch nach kurzer Zeit ans Licht.“
Regierung im Vorfeld in Kenntnis gesetzt
Eine Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass „Teile der Regierung im Vorfeld über die Aktion Kenntnis hatten und an der Realisierung beteiligt waren“. Dr. Necdet İpekyüz, damaliger Sekretär der Ärztekammer Amed, fasste zusammen: „Alle Todesfälle waren die Folge von Kopfverletzungen. Am Tag des Vorfalls besuchten zwei Gefängniswärter das Krankenhaus um 10.00 Uhr morgens. Sie hatten sehr leichte Blutergüsse. Die diensthabenden Ärzte im Krankenhaus wussten nicht, aus welchem Grund die Wärter für solch leichte Verletzungen in das Krankenhaus geschickt wurden. Kurz vor der Attacke auf die Insassen bekam das Krankenhauspersonal einen Anruf vom Bezirksstaatsanwalt. Das Personal wurde angewiesen, sich auf eine große Zahl von verletzten Insassen vorzubereiten.“
Statt Täter wurden Opfer zur Rechenschaft gezogen
Das Massaker wurde von unterschiedlichen Gruppen und der Staatsanwaltschaft geprüft. Die parlamentarische Menschenrechtskommission gab in einer Stellungnahme bekannt, dass „30 Soldaten und 38 Polizisten ihre Autorität überschritten hätten und damit Todesfälle verursachten.“ Die Staatsanwaltschaft von Diyarbakir nahm ihre Ermittlungen allerdings gegen 23 während des Angriffs verwundete Gefangenen wegen „Beschädigung von Staatseigentum und Aufruhr“ auf. Die Ermittlungen gegen die Soldaten und Polizisten wurden mit der Entscheidung auf Straffreiheit gemäß des Gesetzes der Strafverfolgung von Beamten eingestellt. Die Begründung lautete: „Die Soldaten und Polizisten versuchten den Gefangenen Leiden zu ersparen.“
Auf Druck der parlamentarischen Menschenrechtskommission wurde im Januar 1997 das Verfahren gegen 35 Polizisten und 30 Soldaten eröffnet. Im weiteren Verlauf stieg die Zahl der Angeklagten auf 72, ein Urteil wurde jedoch bis 2006 nicht getroffen. Nachdem der Fall an die zweite Strafkammer von Diyarbakir übertragen wurde, verurteilte das Gericht am 27. Februar 2006 (in der 59. Verhandlung) 62 Angeklagte zu 18 Jahren Haft für den Tod mehrerer Insassen. Verschiedene Gründe führten zu einer nachträglichen Strafreduzierung zu sechs Jahren Haft. Der Kassationshof der Türkei hob das Urteil allerdings mit der Begründung auf, dass die Angeklagten eine Möglichkeit der Stellungnahme zu den geänderten Vorwürfen erhalten müssten. Die Anklage der verbliebenen zehn Beschuldigten wurde aufgrund von Verjährung fallen gelassen.
Massaker vor EGMR
Im Fall von Erkan Perişan und anderen veurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 20. Mai 2012 die Türkei: „Der Regierungsversion, dass die Einheiten auf die Attacken von schwer bewaffneten Gefangenen antworteten, widersprachen die leichten Verletzungen der Wärter. Weiterhin wird die gegen Gefangene angewendete Gewalt, welche zum Tod von zehn Gefangenen führte, als nicht „absolut notwendig“ nach Artikel 2 eingestuft. Damit wurde Artikel 2, in Bezug auf den Tod einiger Insassen, verletzt.“ (Fallnummer 12336/03).