Am 20. Oktober 2000 starteten 1.150 politische Gefangene in 48 Gefängnissen der Türkei einen Hungerstreik, um die Einführung von Isolations- (sog. F-Typ-) Gefängnissen zu verhindern. Nach 45 Tagen wurde der Hungerstreik in ein Todesfasten umgewandelt. In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 stürmten 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Gendarmen, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, unter dem Namen „Operation Rückkehr ins Leben“ 20 türkische Gefängnisse. 30 Gefangene wurden getötet, Hunderte weitere verletzt. Insgesamt 34 Menschen gelten bis heute als offiziell „verschwunden“.
ANF sprach mit dem Zeitzeugen Naci Tanrıkoğlu.
„Das Massaker zielte darauf ab, die Gesellschaft niederzuschlagen“
Tanrıkulu beschreibt die Zeit des Massakers als eine Phase der politischen und ökonomischen Krise und erklärt, das Massaker habe darauf abgezielt, die Krise dadurch zu überwinden, indem man sich gegen die Opposition richtete.
Das Massaker vom 19. Dezember muss im Kontext der Angriffe im Jahr 1996 im Ulucanlar-Gefängnis in Ankara und im Gefängnis von Amed betrachtet werden, sagt Tanrıkulu und führt aus: „Dieses Massaker stellt eine Folge der Politik des Staates dar, die Unruhen in der Gesellschaft niederzuschlagen. Der Bau der F-Typ-Gefängnisse wurde im Jahr 1999 abgeschlossen. Zur Zeit der Angriffe in den Gefängnissen betrachtete die Regierung die Gefängnisse als einen wichtigen Teil der Lösung aller politischen Probleme. Es ging darum, die gesamte Opposition in die Gefängnisse zu werfen und dort zu vernichten.“
Heute aus der Perspektive von damals
Tanrıkulu fährt fort: „Wenn wir die Situation damals mit der heutigen vergleichen, dann geht es hier wieder um das Gleiche. In Situationen, in denen es ‚um das Überleben des Staates‘ geht, sind für sie politische Unterschiede von keiner großen Bedeutung. So fand der 19. Dezember ebenfalls unter diesem Vorzeichen statt. Vor dem Angriff waren die F-Typ-Gefängnisse bereits fertiggestellt worden. Dagegen entwickelte sich der Widerstand. Insbesondere die türkischen linken Organisationen stellten die große Mehrheit in diesem Widerstand. Dann begann der Hungerstreik, der sich nach 45 Tagen zu einem Todesfasten entwickelte.“
Bei lebendigem Leib verbrannt
Tanrıkulu berichtet, dass es vor den Angriffen Gespräche zwischen den Vertreter*innen der Gefangenen und dem Staat gegeben habe, dieser aber entschlossen gewesen sei, die F-Typ-Gefängnisse in Betrieb zu nehmen. „Diese Treffen waren eher symbolisch“, fährt Tanrıkulu fort: „ Am 17. Dezember erklärte der Staat, er habe sich anders entschieden und begann mit einer Form der Verzögerungspolitik. Aber am Morgen des 19. Dezember wurde klar, dass das weiche Klima, das der Staat präsentieren wollte, in keiner Weise vertrauenswürdig gewesen ist. Sie begannen damit, zwanzig Gefängnisse mit Abrissbirnen und Baufahrzeugen anzugreifen. Dann fingen sie an, die Gefängnisse anzuzünden. Der Ausspruch ‚bei lebendigem Leibe verbrannt‘, sagt eigentlich alles Notwendige dazu.“
Die Dynamiken heute sind entscheidend
Tanrıkulu sagt über die Hungerstreikaktionen heute, es habe sich seit damals nichts am Wesen der Forderungen geändert. „Damals ging es um einen Widerstand gegen Isolation und heute ist dies ebenfalls so“, so Tanrıkulu und schließt mit den Worten: „Die Forderung nach Aufhebung der Isolation liegt auf dem Tisch. Es findet ein Widerstandskampf für die Umsetzung dieser Forderung statt. Wie er ausgehen wird, hängt von den Dynamiken ab. Das Niveau der Reaktion der Gesellschaft ist dafür entscheidend. Heute sprechen wir von Isolation und es gibt starke Aktionen dagegen. Es ist klar, dass die Aktionen noch weiter gehen werden, aber das grundsätzlich Entscheidende wird die Haltung der Gesellschaft sein.