19. Dezember 2000: „Operation Rückkehr ins Leben“
In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 stürmten 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Spezialeinheiten unter dem Namen „Operation Rückkehr ins Leben“ 20 Gefängnisse in der Türkei.
In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 stürmten 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Spezialeinheiten unter dem Namen „Operation Rückkehr ins Leben“ 20 Gefängnisse in der Türkei.
In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 2000 stürmten 8.500 schwerbewaffnete Soldaten und Gendarmen, darunter auch speziell ausgebildete Spezialbataillone und Eliteeinheiten der Geheimdienste, unter dem Namen „Operation Rückkehr ins Leben“ 20 türkische Gefängnisse. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich etwa 1.150 Gefangene in 48 Gefängnissen im Hungerstreik, 300 von ihnen bereits im Todesfasten, um die Einführung von Isolations- (sog. F-Typ-) Gefängnissen zu verhindern. Bei dem militärischen Großangriff mit Präzisionsgewehren, Nachtsichtgeräten, Flammenwerfern, Panzern, Hubschraubern, Nerven-, Rauch- und Gasbomben, Bulldozern, Baggern, Vorschlaghämmern, Schweiß- und Bohrmaschinen wurden mindestens 30 Gefangene getötet und mehrere Hundert verletzt. Über 20.000 Tränengas-, Nerven-, Pfeffer- und Rauchbomben wurden in die Gefängnisse geworfen – in einem Gefängnis, in Çanakkale, alleine über 5.000. In den Gefängnissen Ümraniye und Çanakkale schafften es die Angreifer erst Tage später, zu den Gefangenen vorzudringen, die sich mit Barrikaden wehrten. Einen Tag zuvor wurden die Journalist*innen vor den Gefängnissen vertrieben und die Gefängnisse hermetisch abgeriegelt. Die Krankenhäuser wies man an, Betten freizuhalten. Um Mitternacht wurden sogar die Mobilfunkverbindungen von Türkcell und Telsim außer Betrieb genommen. 34 Menschen gelten bis heute als offiziell „verschwunden“.
Nach der Erstürmung wurde der Großteil der Gefangenen in F-Typ-Gefängnisse verlegt, wo sie ihren Hungerstreik fortsetzten. Etwa 300 Gefangene wurden zwangsweise in Krankenhäuser eingeliefert, verweigerten jedoch die Aufnahme von Nahrung und medizinische Behandlung.
Anlässlich des 17. Jahrestags des Massakers vom 19. Dezember 2000 veröffentlichen wir einen Artikel der Journalistin Evrim Kepenek, der das Ausmaß dieses Massakers vor Augen führt:
Die Bestialität der Operation „Rückkehr ins Leben“: Befehlsgeber verurteilen!
Zehn Jahre ist es her, dass Inhaftierte und Strafgefangene gegen die „F-Typ“-Isolationsgefängnisse ein Todesfasten begannen. Gegen dieses wurde am 19. Dezember 2000 mit einer Militärintervention vorgegangen. 28 Gefangene und zwei Soldaten verloren dabei ihr Leben. Noch immer gibt es keinen Richterspruch; die Geschädigten fordern indessen die Verurteilung der Befehlsgeber. Und weitere erschreckende Details werden bekannt.
Die Operation vom 19. Dezember 200 stellt eine der dunkelsten Seiten der türkischen Geschichte dar. Während die Befehlsgeber unbehelligt blieben, nehmen die Rechtsverletzungen, die der Grund für das damalige Todesfasten gewesen waren, immer mehr zu. Die Regierung hatte, um den von den Gefängnissen ausgehenden Widerstand zu bekämpfen und den Willen der Gefangenen zu brechen, um das Jahr 2000 das F-Typ-Modell, das europäische System der „Tötung durch Isolation“, einzuführen versucht. Gegen die für Rechtsberaubungen und als „Särge“ bekannten Gefängnisse organisierten die Gefangenen ein Todesfasten. Gegen dieses wurde mit der Operation „Rückkehr ins Leben“ vorgegangen, vorgeblich um dem lebensbedrohlichen Todesfasten Einhalt zu gebieten - doch die Zeugnisse von Opfern und Beteiligten zeigen die Operation als geplantes Massaker.
Auch von Bevölkerung und Intellektuellen hatte der Kampf der Gefangenen für ihre Rechte groβe Unterstützung erfahren. Auf dieser Grundlage kamen bekannte Namen wie die Literatin Adalet Ağaoğlu, Halil Erün, Zülfü Livaneli, Oral Çalışlar und Gencay Gürsoy zusammen und versuchten zu vermitteln. Wenn auch von Zeit zu Zeit Hoffnungen auf den Erfolg dieser Bemühungen aufkamen, so wurde doch aufgrund des eisernen Festhaltens der Regierung am F-Typ keine Einigung erzielt.
20.000 Bomben benutzt
Einerseits nutzte die Regierung die Vermittlungstreffen aus, um die Operation vorzubereiten, andererseits wurde medial der Boden für das Massaker bereitet. Täglich erschienen Meldungen über den Gesundheitszustand der Fastenden; schlieβlich erwachte die Türkei am Morgen des 19. Dezember mit der Operation „Rückkehr ins Leben‟. Zum ersten Mal wurde in einem Land eine solche zeitgleich in 20 Gefängnissen begonnen. Die Schreie „Sie haben uns lebendig angezündet“ sollten sich tief ins Gedächtnis graben.
Im Verlauf der Operation wurden verschiedene Gasbomben eingesetzt, insgesamt 20.000 an der Zahl. 28 Gefangene verloren ihr Leben. Im Gefängnis von Bayrampaşa/Istanbul verbrannten nach bisherigen Erkenntnissen von zwölf getöteten Gefangenen sechs bei lebendigem Leib.
Zehn Jahre sind seit der blutigen Operation „Rückkehr ins Leben‟ vergangen. Noch immer kämpfen in der Türkei Häftlinge in den Gefängnissen, Zehntausende werden trotz erschwerter gesundheitlicher Situation gefangen gehalten und ringen mit dem Tode. Der Verlauf des vor der 13. Kammer des Strafgerichts in Bakırköy eröffneten Prozesses zeigt jedoch, dass kein Sinneswandel stattgefunden hat. Der Anwalt Behiç Aşçı, der vor und nach der Operation für die Rechte der Gefangenen kämpfte und schlieβlich selbst ein langes Todesfasten begann, kommentiert: „Die eigentlich für die Operation Verantwortlichen, die Befehlsgeber und Kommandanten, bleiben gerichtlich unbelangt. Verurteilt wurden Soldaten, die für die äuβere Sicherheit der Gefängnisse zuständig waren - aber die Staatsanwälte haben es nicht bis in die Haftanstalten hinein geschafft.“
Staatsanwälte erhielten Order aus Offizierskasino
Zeki Bingöl, damals Hauptmann der Schutzkompanie des Gefängnisses von Bayrampaşa, berichtete Jahre später in seinem Buch „Die Wahrheit von Bayrampaşa‟ (türk. Bayrampaşa Cezaevi Gerçeği) über die Ereignisse: „Mit vorbereiteten Aktenmappen wurde mit Militärfahrzeugen zur Kommandantur der Gendarmerie gefahren. Beim Treffen war auch Oberst Burhan Ergin, Sonderkommandant aus Ankara, zugegen. Er sagte, er gebe die an der Operation beteiligten Namen nicht heraus. Sie sagten gleich am Anfang: eure Namen werden nicht auftauchen. Die Akten wurden in dieser Form zur Staatsanwaltschaft geschickt. Die Namen der Einheiten, die an heiβen Konflikten im Zuge der Operation beteiligt waren, wurden nicht mitgeteilt. Es war sehr merkwürdig, dass das gegenüber der Staatsanwaltschaft geheim gehalten wurde. Also, niemand wollte seinen Namen in den Dokumenten über die Operation erwähnt sehen.“
Die Intervention der Gendarmerie in den Gefängnissen ohne Aufforderung entbehrte jeder Grundlage. Wie es dennoch zur Signatur auf dem notwendigen Schriftstück kam, obwohl der damals zuständige Istanbuler Generalstaatsanwalt Ferzan Çitici keine Verantwortung für diese übernehmen wollte, zeigt ein Protokoll der Staatsanwaltschaft Üsküdar. Den Angaben eines vom Generalstaatsanwalt Kemal Canbaz festgehaltenen Protokolls vom 18. Dezember ist zu entnehmen, wer die bis heute nicht verurteilten Täter des Massakers sind. Dort schreibt Canbaz: „Am 18. Dezember wurde unsere Staatsanwaltschaft vom Justizministerium angerufen; ich wurde aufgefordert, mich umgehend zum Kompaniehauptquartier der Gendarmerie in Istanbul zu begeben. Es wurde festgelegt, dass die nötigen Instruktionen auf der dortigen verschlüsselten Telefonleitung erfolgen würden. Den gegebenen Insturuktionen entsprechend war auch der Generalstaatsanwalt Istanbuls, Ferzan Çitici, erschienen. Durch Anruf des Justizministeriums auf der verschlüsselten Leitung der Regionalkommandantur wurde Befehl gegeben, zum Zweck der Verlegung der Todesfastenden ins Krankenhaus am Morgen gegen 5 Uhr zu intervenieren; die schriftliche Aufforderung dazu sollte die Bezirkskommandantur der Gendarmerie geben.“
Fachbericht beweist Massaker
Nachdem die Operation erfolgt war, wurde vom Gerichtsmedizinischen Institut, das seinerzeit unter der Präsidentschaft von Prof. Dr. Oğuz Polat stand, ein Fachbericht erstellt. Dieser auf den 14. Januar 2001 datierte „Fachbericht über die Tatortbesichtigung im Gefängnis von Bayrampaşa - Abteilung Terror, Block C‟ verdeutlicht drastisch, was sich im Gefängnis ereignet hatte. Der Bericht stellt zudem heraus, dass Beweise verdunkelt worden sind, verweist auf Widersprüche im Protokoll der Gendarmerie und entlarvt behördliche Erklärungen und Medienberichtererstattungen hinsichtlich der Operation als falsch. Aufsehen erregte insbesondere die Feststellung des Berichts, dass im Gegensatz zur Verlautbarung des damaligen Justizministers Hikmet Sami Türk, „Sie schossen mit Kalaschnikows‟, von der Seite her, auf der sich die Häftlinge befanden, kein Feuer auf die Sicherheitsbeamten eröffnet worden, sondern vielmehr von auβen geschossen worden war. Hinsichtlich der im Zuge der Operation gebrauchten Explosivstoffe hält der Bericht fest, dass die auf den Präparaten angebrachten Hinweise, diese nicht in geschlossen Räumen und auf brennbaren Materialien anzuwenden, nicht beachtet worden seien; ferner seien „nicht eindeutig identifizierbare‟ chemische Substanzen zum Einsatz gekommen.
Erst Opfer der Operation, nun Anwalt im Prozess
Einer, der die Operation am Morgen des 19. Dezember miterlebte, ist der Anwalt Ahmet Fazıl Taner, Mitglied der Gefängniskommission des Istanbuler Menschenrechtsvereins. Taner war als Mitglied einer von Anwälten gegründeten Organisation zu einer Haftstrafe verurteilt worden und verbrachte sechs Monate im Gefängnis von Bayrampaşa. Er verlor zahlreiche FreundInnen im Verlauf der Operation. Heute ist er einer der Anwälte im Prozess um die Verurteilung einiger damals an der Operation Beteiligter. Wie Taner ausführt, ging der Operation ein Widerstand der Gefangenen gegen die Verlegung in den F-Typ voraus. Sie hatten mit einem Hungerstreik begonnen, um nicht in die F-Zellen zu gehen. „Die Treffen mit unterschiedlichen Einheiten der Sicherheitsorgane dauerten an. Es gab Hoffnung auf eine Einigung, denn viele zivilgesellschaftliche Organisationen hatten sich eingeschaltet. Wir hielten eine Verständigung für möglich. Doch dann wurde mit der Operation deutlich, dass diese Treffen nur ein Hinhaltemanöver gewesen waren, und dass es darum ging, v.a. die Insassen der Zellen politischer Parteien um jeden Preis in F-Typ-Zellen zu verlegen. Es kam zu einem Massaker in Bayrampaşa, wie auch in anderen Gefängnissen. Sie drangen ohne vorherige Warnung in das Gefängnis von Bayrampaşa ein und eröffneten das Feuer. Sie erschossen unsere Freunde im ersten Augenblick. Sie eröffneten das Feuer auf Unbewaffnete.“
Sie haben geplant, 150 Menschen umzubringen
Die damaligen Erklärungen administrativer Stellen betreffend, führt Taner aus: „Für uns war ein Szenario Wirklichkeit geworden, das man Alptraum nennen kann. Der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit sagte, nur wenige würden vermisst, und man habe mit bis zu 150 Toten gerechnet. Sie hatten also geplant, 150 Menschen umzubringen, und den Tod von 32 Menschen sahen sie als Erfolg. Wir sahen uns einer unerbittlichen, unmenschlichen Gewalt gegenüber.‟ Was die Verurteilung der Täter angehe, habe man keine allzu groβen Hoffnungen, so Taner. „Aus rechtlicher Sicht gibt es nicht viel zu tun. Oder, sowohl ja als auch nein. Denn in der Türkei gilt das Recht nicht viel. Ich versuche dennoch, soviel als möglich über das zu berichten, was in den Gefängnissen geschehen ist und wie Menschen dort um ihre Rechte kämpfen.
In den letzten Tagen ging nun eine weitere Meldung über die in 20 Gefängnissen gleichzeitig begonnene Operation durch die Medien.
Der Berufsunteroffizier A.N., der an der Operation im Gefängnis Bayrampaşa beteiligt gewesen war, gab in einem Interview mit der Zeitung Taraf bekannt, dass Gefangenen benzingetränkte Decken zugeworfen worden seien. A.N., von Gewissensbissen gequält, habe der Generalkommandantur in einem schriftlichen Antrag mitgeteilt, dass er aussagen wolle; es sei jedoch nie eine Antwort gekommen. Sein Kommentar: „Wir wurden vom Staat benutzt und weggeworfen.“
Schüsse auf den Gängen
Gegenüber Taraf beschrieb A.N. die Operation insgesamt als bestialisch: „Ich war Berufsunteroffizier und in Bayrampaşa in der Entsendungsabteilung tätig. An jenem Tag wurden Einheiten für die Operation vorbereitet. Sie gaben uns nur Plastikschilde und -knüppel. Unsere Aufgabe sollte es sein, Insassen die kapituliert hatten, abzuführen.
Um Mitternacht begann die Operation, gegen drei oder vier Uhr endete sie. Wir gingen zwischen zwei und drei Uhr hinein, aber vor uns war bereits Personal der Generalkommandantur dagewesen, nicht in Bayrampaşa Beschäftigte, sondern andere Einheiten. Es waren diese Einheiten, die den Anfang bei der Operation machten. Sie waren bewaffnet. Häftlinge, die sie auf den Gängen sahen und nicht zurück in ihre Trakte drängen konnten, machten sie kampfunfähig, indem sie ihnen in die Beine schossen.“
Verkohle Leichen
„Die weiblichen Gefangenen schrien eine Weile später aus dem Trakt, in dem sie sich befanden, dass sie sich ergeben wollten. Es waren Gasbomben in ihren Trakt geworfen worden. Sie riefen 'Macht die Tür auf!', aber wir öffneten nicht. Dann verstummten irgendwann die Stimmen aus dem Trakt der Damen. Danach schlugen Flammen von dort hervor. Wir konnten hinein, nachdem das Feuer gelöscht worden war und die Türen zur Lüftung geöffnet worden waren.
Ich sah Frauenleichen in zwei Ecken, eine war an zwischen einem eisernen Schrank an der Rückseite der Tür und dieser eingeklemmt. Mehr als zehn Leichen. Sie waren verkohlt. Nicht weil sie sich selbst angezündet hätten - sie waren verbrannt, nachdem sie sich vor dem Feuer in eine Ecke geflüchtet hatten. In dem Augenblick konnte ich mir keinen Reim darauf machen. Einer der von auβen georderten Einheiten sagte mir jedoch: 'Nachdem Feuer ausgebrochen war, haben die Frauen drinnen geschrien, wir verbrennen, helft uns, wir ergeben uns. Macht die Tür auf! Darauf sagten wir ihnen, in Ordnung, wir werden euch retten, wickelt euch in diese nassen Decken, dann seid ihr geschützt! Und wir warfen Decken hinein.' Danach jedoch, so erzählte er weiter, warfen sie brennbares Material und benzingetränkte Decken hinterher. Als ich das hörte, erkannte ich ein weiteres Mal die Bestialität des Ganzen.“
Nach wie vor kämpfen Hinterbliebene um die rückhaltlose Aufklärung der Vorgänge am 19. Dezember 2000, und nach wie vor versorgen Angehörige diejenigen, die nach der zynisch „Rückkehr ins Leben“ genannten Operation durch bleibende Schäden auf Hilfe angewiesen sind.