Die Rolle eines gelebten Internationalismus

„Die Solidarität aus Europa und der Welt, welche Form auch immer sie annimmt, hat großen Einfluss auf den Kampf vor Ort. Sie ist Quelle von Motivation und Kraft, gerade in schwierigen Zeiten“, erklärt YPG-International.

Nach dem militärischen Sieg über den „Islamischen Staat“ (IS), der weit über 11.000 Leben auf Seiten der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ kostete, ist in Rojava keineswegs Frieden eingekehrt. Das Gebiet unter Kontrolle der demokratischen Autonomieverwaltung im Norden und Osten des syrischen Staatsgebiets ist tagtäglich Angriffen ausgesetzt. Einerseits wird versucht, über direkte militärische Angriffe an den Fronten und im Inneren die politische Lage Rojavas zu destabilisieren, andererseits werden ökonomische, ökologische und psychologische Mittel der Spezialkriegsführung angewandt. Seit Jahren etwa staut der türkische Staat das Wasser des Euphrats auf seinem Gebiet auf, um die ohnehin schon durch Embargos geplagte Zivilbevölkerung weiter zu zermürben. In den heißen Monaten des Jahres sind Dürre, Ernteausfälle und ökologische Zerstörung die Folge – für die ärmeren Teile der Bevölkerung kommt dies oft dem Dolchstoß gleich. Der Krieg des faschistischen türkischen Staates ist ein umfassender Krieg, der – ausgehend von einer simplen Freund-Feind-Unterscheidung – alles zu vertreiben oder zu vernichten sucht, was kurdisch und/oder widerständig ist. Einheiten der Verteidigungskräfte an der Ain-Issa-, der Til-Temir- sowie der Şehba-Front berichten seit langer Zeit von dauerhaftem, wahllosem Artilleriebeschuss auf von Zivilist:innen bewohnte Gebiete. Assyrer:innen, Ezid:innen, Armenier:innen, Kurd:innen, also alle die keine sunnitischen Muslime sind und keinen Widerstand leisten, sie alle sollen unter dem Granatterror fliehen. In den besetzten Gebieten in Efrîn, Girê Spî, oder Serêkaniyê sind Vertreibung, Folter, Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen sowie wahllose Morde an der Tagesordnung. Gemäß neoosmanischen Großmachtfantasien werden ganze Bevölkerungsteile assimiliert, ausgetauscht oder vertrieben. Mit der Besatzung wurde Türkisch als Amtssprache eingeführt, die kurdische Kultur ausgemerzt und ein autoritäres System installiert.

Als militärischer Verband hat YPG-International sowohl in Ain Issa als auch in Til Temir Kämpfer:innen stationiert; ihre Eindrücke decken sich mit den Kriegsberichten. Fast täglich erreichen uns Nachrichten von getöteten Zivilist:innen, zerstörten Häusern und vernichteter Lebensgrundlage. Wer etwa durch das Dorf Derdara bei Til Temir wandelt, dem werden die unzähligen Granatsplitter auffallen, die überall in der Ortschaft herumliegen. Viele Landstriche werden vollkommen unbewohnbar gemacht.

Eine neue Form des Krieges

In den vergangenen Monaten hat der faschistische türkische Staat seine militärischen Angriffe auf Rojava intensiviert. Vor wenigen Wochen wurden die YPJ-Kommandantin Sosin Bîrhat und der YPG-Kommandant Rênas Roj sowie drei weitere Angehörige der Verteidigungskräfte bei gezielten Drohnenangriffen getötet, mindestens drei weitere Menschen wurden verletzt. Die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) sprechen in einer kurz darauf veröffentlichten Erklärung von einer neuen Phase des Besatzungskrieges. Was sich seit vielen Jahren abzeichnete und anbahnte, ist unlängst militärische Praxis: der Spezialkrieg. Der Spezialkrieg bedient sich herkömmlicher Kriegsführung wie wir sie in den größeren Operationen wie etwa in Kobanê, Efrîn, Girê Spî oder Serêkaniyê gesehen haben und erweitert die Alltäglichkeit des Krieges in alle denkbaren Lebensbereiche. Die Natur, lebenswichtige Ressourcen, die Zivilbevölkerung, Kultur, Ökonomie, Ethik, der gesellschaftliche Zusammenhalt – kurz alle Sphären, die mit dem Leben im Zusammenhang stehen, sind ständigen Angriffen ausgesetzt. Der türkische faschistische Staat bedient sich dabei all seiner militärischen Optionen als zweitstärkste NATO-Macht und erweitert diesen Terror mithilfe seines gigantischen Geheimdienst- und Propagandaapparates. Zusätzlich instrumentalisiert er dschihadistische Milizen, welche an der Front sowie in den besetzten Gebieten als Proxy-Kräfte außerhalb seiner eigenen Verantwort- und Gerichtbarkeit operieren. Dass diese Milizen sich zu großen Teilen aus (ehemaligen) IS-Dschihadisten, Al-Nusra-Kämpfern und Mitgliedern weiterer dschihadistischer Splittergruppen zusammensetzen, ist für den faschistischen türkischen Staat kein Hindernis, sondern intendiert.

Im Fokus des Spezialkrieges stehen vor allem auch Frauen und die Jugend: diejenigen Bevölkerungsgruppen also, die die Revolution entscheidend mitprägen und vorantreiben. Vornehmlich gegen erstere wird dieser Krieg mit den brutalsten Mitteln geführt; hier manifestiert sich der Spezialkrieg zusätzlich von seiner patriarchalen Seite. Politisch engagierte Frauen wie Hevrîn Xelef, Zehra Berkel, Sada al-Harmoush und Hind al-Khedr sind nur einige derjenigen, die im Kampf um die Befreiung ihr Leben gelassen haben.

Internationalismus vor Ort und in Deutschland

Seit Beginn des Krieges gegen den IS waren Internationalist:innen unter dem Banner von YPG-International Seite an Seite mit den Kämpfer:innen der lokalen YPJ- und YPG-Einheiten aktiv und haben sich vor Ort und weltweit einen Namen gemacht. Viele sind in diesem Kampf für die Befreiung und Verteidigung Rojavas und der Revolution gefallen; sie sind Wegbereiter und Inspiration für die heutigen Freiwilligen, die sich uns oder den anderen ansässigen internationalistischen Strukturen aus allen Teilen der Welt anschließen. Unser Engagement setzt sich auch heute in der Verteidigung der Bevölkerung fort. Gemeinsam mit den lokalen Verteidigungskräften kämpft YPG-International gegen die verbrecherischen Machenschaften des faschistischen türkischen Staates und seinen dschihadistischen Söldnertruppen, um die Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien und das Projekt der Selbstverwaltung zu verteidigen.

Gelebter Internationalismus erfordert aber auch Handeln, speziell in den kapitalistischen Metropolen. Gerade der Standort Deutschland spielt eine zentrale Rolle, da sowohl Staat als auch Industrie die Attacken auf Rojava mitverantworten. Rüstungskonzerne wie die Rheinmetall AG erwirtschaften massive Profite mit dem Leid der Bevölkerung Rojavas; der deutsche Staat genehmigt wieder und wieder umstrittene Waffenlieferungen an die Türkei. Deutsche Leopard II Panzer, die in Efrîn einrollen sind nur eines von vielen Beispielen, wo und wie diese Waffen eingesetzt werden. Diese mörderische Exportpolitik zu skandalisieren und zu verhindern muss Aufgabe einer Linken in Deutschland sein. Aktionsformen wie das „Rheinmetall-Entwaffnen-Camp“, Solidaritätsdemonstrationen, finanzielle Unterstützung für Organisationen wie „Heyva Sor a Kurd“ oder andere öffentlichkeitswirksame Aktionen und Veranstaltungen sind einige von vielen Möglichkeiten, sich zu engagieren. Daneben sind Internationalist:innen, die sich entschließen, nach Rojava zu kommen, jederzeit willkommen! 

Die Solidarität aus Europa und der Welt, welche Form auch immer sie annimmt, hat großen Einfluss auf den Kampf vor Ort. Sie ist Quelle von Motivation und Kraft, gerade in schwierigen Zeiten. Darüber hinaus bricht sie das Schweigen, das viel zu lange um verbrecherische Waffendeals, NATO-Bündnisse und geopolitische Interessen vorherrschte.

Die Revolution in Rojava ist unbestreitbar einer der wichtigsten linken Aufbrüche der letzten Jahrzehnte. Mit ihren Kernparadigmen von radikaler Basisdemokratie, Frauenbefreiung und Ökologie beweist die Revolution in Rojava, dass sozialistische Alternativen keineswegs Utopien bleiben müssen, sondern aktiv gelebt werden können. Sie zu verteidigen liegt nicht nur in der Verantwortung der Bevölkerung Rojavas, sondern der globalen Linken.


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