„Efrîn steht für das Versagen der internationalen Staatengemeinschaft, menschliche Werte und das Völkerrecht zu bewahren.“ Mit diesen Worten erinnert der Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) Mazlum Abdi daran, dass es nun drei Jahre her ist, seit die Türkei den bis dahin selbstverwalteten Kanton Efrîn in Rojava aus kolonialistischem Selbstverständnis heraus besetzte. Die sogenannte Staatengemeinschaft schweigt nach wie vor zu diesem Bruch des Völkerrechts und verschließt die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen, die dort seit drei Jahren täglich begangen werden.
Unter dem zynischen Namen „Operation Olivenzweig“ startete die Türkei am 20. Januar 2018 einen Angriffskrieg gegen Efrîn, bis der Ortskern der Stadt am 18. März 2018 schließlich eingenommen wurde. Die mehrheitlich kurdisch besiedelte Region gehört zu den altbesiedelten Bergländern, die nie von Nomaden bedroht waren, sondern seit der Antike durchgehend besiedelt sind. Dies unterscheidet Efrîn von Kobanê oder der Cizîrê-Region, die erst zwischen den beiden Weltkriegen wieder systematisch unter den Pflug kamen. Der Kanton ist von zwei türkischen Provinzen umschlossen – im Norden von Kilis und im Westen von Hatay, umfasst die Region Çiyayê Kurmenc (oder Kurd Dagh/Dschabal al-Akrad: „Berg der Kurden“) und enthält die Städte Efrîn im Zentrum und darüber hinaus Şêrawa, Cindirês, Mabeta, Reco, Bilbilê, Şiyê und Şera. Der Name Efrîn bedeutet auf Kurdisch „gesegnete Schöpfung“.
Bei ihrem Angriffskrieg bediente sich die Türkei der Unterstützung dschihadistischer Milizen, die durch den türkischen Staat ausgebildet, ausgerüstet und finanziert werden, und setzte unter anderem auch deutsche Waffen – wie etwa Leopard 2-Panzer ein. Offiziell, um sich selbst zu verteidigen, hat die türkische Regierung zusammen mit ihren islamistischen Verbündeten relativ schnell Fakten in Efrîn geschaffen:
* Rund eine halbe Millionen Menschen, darunter hunderttausende Binnenvertriebene, wurden vertrieben. Die meisten von ihnen leben bis heute in Zeltstädten im benachbarten Kanton Şehba
* Über 7.000 Zivilistinnen und Zivilisten wurden entführt; das Schicksal von etwa der Hälfte ist unbekannt
* Hunderte Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, wurden getötet, allein 498 Menschen verloren 2018 bei Bombadements ihr Leben. Bis heute hält das Morden an: die Zahl der in den Folterkellern der Besatzungstruppen getöteten Menschen lag zuletzt im dreistelligen Bereich. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Über tausend Menschen wurden bei Angriffen der Besatzer verletzt.
* Etwa 65 Prozent der Häuser der ursprünglichen Bevölkerung Efrîns wurden beschlagnahmt. Angesiedelt wurden überwiegend turkmenische und arabische islamistische Familien, die aus anderen syrischen Gebieten wie etwa Ghouta stammen.
*Auch die Natur Efrîns blieb von der Unterdrückung der Besatzungstruppen nicht verschont. Diese massive Umweltzerstörung ging einher mit verheerenden ökonomischen Auswirkungen auf die Region und ihre Menschen. Seit der Besatzung wurden über 315.000 Bäume abgeholzt und als Brennholz verkauft, darunter 300 seltene und alte Olivenbäume, 15.000 Eichen und mehr als 11.000 Waldbäume. Von 33.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in Efrîn ist mehr als ein Drittel in Brand gesteckt worden.
* Mindestens 105 archäologische Stätten wurden geplündert, auf einigen historischen Siedlungshügeln, die zuvor planiert worden sind, haben die Besatzungstruppen militärische Stützpunkte errichtet.
* Während die Zahl der eingeschriebenen Schülerinnen und Schüler vor der Invasion 50.855 betrug, gibt es derzeit nur rund 13.000, allerdings auch nur in der Region Şehba. Mindestens 64 der Schulen Efrîns sind im Zuge des Überfalls zerstört oder umgewandelt worden – einschließlich der Universität Efrîn. In den von der Besatzung wiedereröffneten Schulen wurde Kurdisch und Aramäisch vom Lehrplan gestrichen – alleinige Unterrichtssprachen sind Türkisch und Arabisch. Darüber hinaus ist das islamische Rechtssystem (Scharia) Pflichtfach in allen Einrichtungen – das gilt auch für Kinder, die Minderheiten angehören.
*Christliche, ezidische, alevitische Gotteshäuser wurden unter Schirmherrschaft türkischer Behörden in Moscheen verwandelt. Die Namen der meisten Straßen, Plätze, öffentlichen und historischen Orte im Kanton sind mit den Namen von türkischen und islamischen Persönlichkeiten ausgetauscht und insbesondere nach solchen benannt worden, die Verbrechen gegen das kurdische Volk begangen haben.
Efrîn ist einem von langer Hand geplanten Prozess der Umsiedlung und Umerziehung unterworfen worden. Bis heute hält dieser Zustand an. Die Tatsache, dass die Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft zur völkerrechtswidrigen Invasion syrischen Territoriums nur verhalten ausfielen, hat den türkischen Staat zu weiteren Angriffskriegen gegen die Region ermutigt. Mit der sogenannten „Operation Friedensquelle“, die im Oktober 2019 begann, besetzte die Türkei die Städte Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) und setzt ihre Vertreibungspolitik fort.