In Qamişlo hat am Wochenende das zweite Menschenrechtsforum Efrîn stattgefunden. Unter der Schirmherrschaft der syrischen Recherchestelle für Frauenrechte, des Zentrums für strategische Studien Rojava (NRLS), der Menschenrechtsorganisation Efrîn und dem Menschenrechtsverein der Cizîrê-Region sprachen rund 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem In- und Ausland über die menschenrechtliche Situation in der besetzten Region im Nordwesten von Syrien, diskutierten die Auswirkungen der Invasion und beleuchteten mögliche Lösungen. Die Arbeitsgruppen setzten drei thematische Schwerpunkte: Charakteristika der Verbrechen der türkischen Besatzer und verbündeter Dschihadistenmilizen im Lichte des Völkerrechts, Übergriffe auf Frauen in Efrîn durch Besatzungstruppen sowie juristische Möglichkeiten, die Täter dieser Verbrechen in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zur Verantwortung zu ziehen.
Einleitend stellten Abid Hamid al-Mihbash als Ko-Vorsitzender des Exekutivrats der nordostsyrischen Autonomieverwaltung und Ibrahim Sheikho aus dem Vorstand der Menschenrechtsorganisation Efrîn eine Bilanz über drei Jahre Besatzung in dem Kanton vor. Der Bericht dokumentiert lediglich bekannt gewordene Fälle von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Efrîn. Der Großteil bleibe aufgrund der andauernden Besatzungssituation und des fehlenden Zugangs unabhängiger internationaler Gremien in die Region weiterhin im Verborgenen.
Die türkische Invasion in Efrîn begann am 20. Januar 2018. War es der kurdischen Region mit der Revolution von Rojava noch gelungen, sich im Machtvakuum des syrischen Bürgerkriegs größtenteils von der Herrschaft des Baath-Regimes zu befreien und inmitten eines türkisch-dschihadistischen Kessels eine basisdemokratische Gesellschaftsform aufzubauen sowie sich ökonomisch, kulturell und politisch weiterzuentwickeln, brachte die „Operation Olivenzweig“, wie die türkische Regierung ihren völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zynisch nannte, Leid, Tod, Plünderung und Zerstörung.
Mihbash (l.) und Sheikho (m.) bei der Vorstellung des Berichts
Die brutale Aggression der Türkei unter Einsatz hochmoderner Waffen mit großen Reichweiten und Bombardierungen durch Kampfflugzeuge hat eine riesige Spur der Verwüstung durch die Region gezogen. Das Ausmaß der Zerstörung in Wohngebieten, Infrastruktur und lebenswichtigen zivilen Einrichtungen ist enorm. Die Angriffe führten zu hunderten Toten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung, lösten eine massive Vertreibungswelle aus und bereiteten den Boden für Massaker im Rahmen des gezielten Vorhabens einer ethnischen Säuberung. Diese Verbrechen wurden unter eklatanter Verletzung aller internationalen Prinzipien und Konventionen und unter verschiedenen Vorwänden begangen, um die Besetzung des Kantons Efrîn zu rechtfertigen: Das Recht auf Selbstverteidigung wegen vermeintlicher Angriffe aus Rojava auf türkisches Staatsgebiet, für die Ankara bis heute keine Beweise geliefert hat, die Einrichtung einer Pufferzone und die Umsiedlung von syrischen Flüchtlingen und Binnenvertriebenen. Bekanntlich verfügte Efrîn vor der Besatzung über ein Verwaltungs- und Gesellschaftssystem und genoss eine relative Stabilität in Bezug auf Sicherheit und Wirtschaft, die in den restlichen Regionen Syriens nicht existierte. Darüber hinaus galt Efrîn bis zum Angriff der Türkei und der Islamisten, denen sie sich bedient, als letzter sicherer Zufluchtsort für Binnenvertriebene.
400.000 „Fremde“ in Efrîn
Die Invasion startete mit 72 Kampfflugzeugen, Hunderten Schützenpanzern und Artilleriegeschossen, Tausenden Soldaten und 25.000 islamistischen Proxys, die direkt zu Beginn alle wichtigen militärischen, zivilen und lebenswichtigen Einrichtungen ins Visier nahmen. Das Krankenhaus Avrîn wurde dreimal bombardiert, darüber hinaus wurde ein Krankenwagen des Kurdischen Roten Halbmonds beim Transport von Verwundeten angegriffen. Im Dorf Metîna im Kreis Şera wurde eine Wasseraufbereitungsstation attackiert, der Stausee in der Ortschaft Meydankê, der einzige Staudamm, der Efrîn mit Wasser versorgt, wurde ebenfalls Ziel der Angriffe. Die Türkei hat Wasser als Kriegswaffe eingesetzt, um die Zivilbevölkerung zur Flucht zu zwingen. Nach 58 Tagen Widerstand gegen die zweitgrößte NATO-Armee und ihre dschihadistischen Verbündeten entschieden sich die Autonomieverwaltung und die YPG-Kommandantur von Efrîn zum Rückzug, um weitere Massaker zu verhindern. Am 18. März 2018 wurde Efrîn schließlich von den Invasionstruppen eingenommen. Mindestens 498 Zivilist*innen verloren bei Bombadements ihr Leben, weitere 696 wurden verletzt, darunter 303 Kinder und 213 Frauen. Mindestens 82 Menschen starben unter Folter. Mehr als 300.000 Menschen wurden vertrieben.
Zahlen aus 2018
Etwa 80 Prozent der vetriebenen Bevölkerung Efrîns und der dortigen Schutzsuchenden flüchtete in den benachbarten Kanton Şehba, vor allem nach Tel Rifat, sowie nach Aleppo. Die meisten Menschen leben noch heute in provisorischen Camps in dem wüstenähnlichen Niemandsland, das zwischen Aleppo und Efrîn liegt, und sind von der Außenwelt nahezu vollständig abgeschnitten. In den Bezirken und Dörfern Efrîns wurden etwa 400.000 Menschen aus den verschiedenen Konfliktgebieten in Syrien angesiedelt, insbesondere aus Idlib, dem Umland von Aleppo und aus Ost-Ghouta.
Schulen zerstört, Krankenhäuser bombardiert
Laut einer Statistik der kantonalen Bildungsbehörde Efrîns wurden 64 Schulen im Zuge des Überfalls der Besatzungstruppen zerstört. Während die Zahl der eingeschriebenen Schülerinnen und Schüler vor der Invasion 50.855 betrug, gibt es derzeit rund 13.000, allerdings auch nur in der Region Şehba. Andere Fakten wurden ebenfalls relativ schnell geschaffen. So sind alle Bildungszentren, einschließlich der Universität Efrîn, von der Türkei geschlossen worden. In den von der Besatzung wiedereröffneten Schulen wurde Kurdisch und Aramäisch vom Lehrplan gestrichen – alleinige Unterrichtssprachen sind Türkisch und Arabisch. Darüber hinaus ist das islamische Rechtssystem (Scharia) Pflichtfach in allen Einrichtungen – das gilt auch für Kinder, die Minderheiten angehören.
Extralegale Hinrichtungen und Entführungen
Im Laufe des Jahres 2018 führten der türkische Staat und unter der Regie Ankaras agierende Söldner systematische Tötungen und Entführungen durch. Die Zahl der entführten Personen erreichte 943, von denen 76 unter Folter getötet oder ohne Gerichtsverfahren hingerichtet wurden, weil ihnen Verbindungen zur Autonomieverwaltung vorgeworfen wurden. Die meisten Entführungen fanden unter der Aufsicht der türkischen Armee und ihres Geheimdienstes MIT statt.
2019: 6000 Fälle von Entführungen
Bis Ende 2019 registrierte die Menschenrechtsorganisation Efrîn mehr als 6.000 Fälle von Entführungen in der Region. Bei etwa 3.300 der Fälle gibt es noch immer keine Informationen darüber, wo die Opfer festgehalten werden und wie ihr Zustand ist. Da sich Entführungen zu einer lukrativen Einnahmequelle für die Besatzungsmilizen etabliert haben, wird diese Methode in der Regel zur Lösegelderpressung angewandt. 2019 konnten rund 500 Fälle von Lösegeldübergaben dokumentiert werden. Was schwankte, waren die geforderten Summen.
Etwa 700 aller Entführungsopfer mussten Folter erleiden. In 54 Fällen endete die Tortur tödlich. Weitere 41 Menschen starben an den Folgen von Bombardierungen durch den türkischen Staat und dschihadistische Gruppierungen. 672 Zivilist*innen, darunter zwei Journalist*innen, wurden bei Artillerieangriffen und Luftschlägen verletzt. 1.730 Menschen erlitten durch Detonationen von Minen und anderen Sprengkörpern verschiedene Verletzungen.
Am 2. Dezember verübte die türkische Armee gezielt ein schweres Massaker an Flüchtlingen aus Efrîn, die in Tel Rifat Schutz suchten. Acht Kinder zwischen drei und 15 Jahren und zwei Erwachsene wurden bei einem Artilleriebeschuss getötet. Weitere 17 Menschen, unter ihnen neun Minderjährige, wurden verletzt.
Übergriffe auf Frauen
Besonders betroffen von dem Besatzungsregime in Efrîn, das den vom IS etablierten Standards in nichts nachkommt, sind Frauen. Verschleppungen, Vergewaltigungen, sexualisierte Gewalt und Folter sowie Tötungen sind an der Tagesordnung. Feminizid als Methode der klassischen Kolonialpolitik wird von den dschihadistischen Gruppierungen und der türkischen Armee gezielt verfolgt, um die Gesellschaft als Ganzes anzugreifen und zu zermürben. Zwischen 2018 und 2019 wurden 40 Frauen ermordet und 128 verletzt, weitere 270 Frauen wurden entführt. Darüber hinaus sind 60 Fälle von Vergewaltigung registriert worden, die meisten davon an Minderjährigen. Fünf dieser Frauen begingen Selbstmord. Es wurden auch Fälle von Zwangsheirat bekannt sowie eine hohe Rate an Eheschließungen mit Minderjährigen, um zu verhindern, dass Mädchen und junge Frauen Mitglieder bewaffneter Gruppen heiraten müssen.
Vergewaltigungen an Männern in Haft
Bis Ende 2020 kamen in Efrîn 58 Menschen bei Angriffen der Besatzungstruppen oder durch extralegale Hinrichtungen ums Leben. Unter ihnen waren neun Frauen. Insgesamt 987 Entführungen wurden gezählt, darunter 35 Frauen. Zudem wurden 67 Vergewaltigungen registriert, unter den Opfern waren auch Minderjährige und körperlich eingeschränkte Frauen und Mädchen. Fünf Minderjährige sind mit Dschihadisten zwangsverheiratet worden. Die sexualisierte Gewalt in Efrîn richtet sich jedoch nicht nur gegen Frauen, denn es wurden auch Fälle von Vergewaltigungen von Männern und Jugendlichen in den Gefängnissen der Besatzungsmilizen unter Aufsicht der türkischen Armee dokumentiert. Der Bericht hält zudem fest, dass es in Efrîn im vergangenen Jahr 39 Bombenanschläge in Wohngebieten gegeben hat, die zu 170 Toten und Verletzten führten.
Übergriffe gegen Minderheiten und historische Denkmäler
Die Minderheiten Efrîns, insbesondere die Aleviten und Eziden, waren in den letzten Jahren gleichermaßen Vertreibungen, weit verbreiteten Gewalttaten sowie Übergriffen auf ihre Kultur und ihren Glauben ausgesetzt. In Efrîn existieren 23 ezidische Dörfer, die vor Ausbruch der Syrien-Krise im Jahr 2011 von etwa 25.000 Menschen bewohnt wurden. Mit den wiederholten Angriffen dschihadistischer Gruppierungen während der Jahre des Konflikts verließ ein Teil die Region in Richtung Europa. Mit der Invasion der türkischen Besatzungstruppen und ihrer extremistischen Helfer in Efrîn flohen die meisten Eziden aus ihren Dörfern. Nur einige wenige, meist ältere Menschen, sind geblieben. Inzwischen hat sich die Zahl der Eziden und Aleviten Efrîns auf maximal 7.000 reduziert.
Die verschiedenen Fraktionen der Besatzungstruppen haben schwerste Verstöße begangen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen. Mittels Repression und Unterdrückung wurden Angehörige dieser Minderheiten zur Konversion zum Islam gezwungen. Ihr kulturelles und religiöses Erbe wurde zerstört, Heiligtümer dem Boden gleichgemacht oder als Tierställe genutzt, Friedhöfe auf der Suche nach archäologischen Relikten vernichtet, historische Stätten geplündert. Gotteshäuser wurden unter Schirmherrschaft türkischer Behörden in Moscheen verwandelt. Die Namen der meisten Straßen, Plätze, öffentlichen und historischen Orte im Kanton sind mit den Namen von türkischen und islamischen Persönlichkeiten ausgetauscht und insbesondere nach solchen benannt worden, die Verbrechen gegen das kurdische Volk begangen haben.
Über 300.000 Bäume gefällt
Auch die Natur Efrîns blieb von der Unterdrückung der Besatzungstruppen nicht verschont. Diese massive Umweltzerstörung ging einher mit verheerenden ökonomischen Auswirkungen auf die Region und ihre Menschen. Seit der Besatzung wurden etwa 300.000 Bäume abgeholzt und von den Besatzungstruppen als Brennholz verkauft, darunter 300 seltene und alte Olivenbäume, 15.000 Eichen und mehr als 11.000 Waldbäume. Von 33.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in Efrîn wurde mehr als ein Drittel in Brand gesteckt.
Forderungen an internationale Gemeinschaft
Das Forum hat ein Positionspapier mit Perspektiven für ein Ende der Efrîn-Invasion formuliert und stellt konkrete Forderungen und Empfehlungen an die internationale Gemeinschaft:
- Betonen, dass die türkische Militärintervention in den syrischen Gebieten ein Verbrechen der Aggression gegen die Souveränität Syriens, das Mitglied der Vereinten Nationen ist, darstellt, da sie nicht auf einer internationalen Resolution oder einer Resolution Syriens beruht und eine klare Verletzung der Bestimmungen der UN-Charta und der Bestimmungen des humanitären Völkerrechts darstellt.
- Sich für die Beendigung der türkischen Besetzung syrischer Gebiete einzusetzen und die Rückkehr der gewaltsam vertriebenen Menschen unter internationaler Schirmherrschaft zu gewährleisten.
- Darauf hinweisen, dass die Verbrechen, die in Efrîn an Frauen begangen wurden, den Grad eines Völkermordes erreichen, und sich dafür einsetzen, dass dies der internationalen Gemeinschaft bekannt gemacht wird.
- Die Forderung an die Vereinten Nationen, eine internationale Untersuchungskommission in den Kanton Efrîn zu entsenden, um die vom türkischen Besatzerstaat und den unter seinem Banner stehenden Gruppierungen begangenen Verbrechen zu untersuchen.
- Die Forderung an die Vereinten Nationen und die zuständigen internationalen Gremien, ihre juristische und moralische Verantwortung gegenüber hunderttausenden Vertriebenen Efrîns wahrzunehmen, indem sie es als Verbrechen der Zwangsvertreibung zum Zweck des demografischen Wandels und als Verbrechen der ethnischen Säuberung betrachten, was nach dem Römischen Statut von 1998 ein Kriegsverbrechen ist, und die Täter an den Internationalen Strafgerichtshof verweisen.
- Intensiver mit Akademikern, Forschern und Aktivisten zusammenarbeiten, um Fälle der in Efrîn begangenen Verbrechen schneller an internationale Organisationen und Gerichte heranzutragen.
- Etablierung eines internationalen Programms zur individuellen und kollektiven Entschädigung aller Opfer der türkischen Besatzung, insbesondere von Frauen und Kindern.
- Kommunikation mit internationalen Medien und Dokumentarfilmern und Arbeit an der Aufdeckung der Verbrechen, die von der Türkei und den bewaffneten, ihr loyalen Gruppierungen begangen werden.
- Bildung eines lokalen und internationalen Komitees, das die Empfehlungen und Beschlüsse des Forums weiterverfolgt und die Abhaltung nachfolgender Foren in diesem Zusammenhang vorbereitet.