„Zerstreuungspolitik“: Türkei ignoriert EGMR

Von 24 inhaftierten HDP-Bürgermeister*innen wurden bereits 21 „zerstreut“, das heißt in Gefängnisse verlegt, die möglichst weit vom Wohnort entfernt sind. Mit der Methode sollen die Politiker*innen von ihrem sozialen Umfeld isoliert werden.

Die Strafanstalts-Methode der „Zerstreuung“ besteht aus dem Transferieren von Gefangenen in entfernt liegende Gefängnisse, um sie von ihrem sozialen Umfeld zu isolieren und ihre Angehörigen durch überlange Anreisen zu bestrafen. In fast allen Fällen handelt es sich bei den Betroffenen um politische Gefangene. Bei 21 der 24 Bürgermeister*innen, die im Zuge der seit August 2019 durch die kurdischen Rathäuser fegenden Repressionswelle gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) auf Anordnung der AKP-Regierung abgesetzt und inhaftiert wurden, wird das Zerstreuungs-System bereits angewandt. Zwar sehen die Strafgesetze eine heimatnahe Verbüßung vor, aber für die türkische Justiz ist dies nur eine Randnotiz, die nicht weiter interessiert. Damit ignoriert der Justizapparat zudem ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das in der Methode einen Verstoß gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention sieht.

Im genannten Fall hatten die kurdischen Gefangenen Abdulkerim Avşar und Abdulkerim Tekin – beide wegen Terrorvorwürfen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, erfolgreich gegen die willkürliche Verweigerung ihrer Verlegung in eine heimatnahe Haftanstalt geklagt. Die Straßburger Richter*innen sahen es als erwiesen an, dass die Türkei mit der Ablehnung von Verlegungsanträgen der Beschwerdeführer gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens verstoßen hat, und verurteilte Ankara im September 2019 deshalb zur Zahlung einer Entschädigung in Höhe von jeweils 6000 Euro für Avşar und Tekin.

Urteile des EGMR sind für die Türkei zwar wie jedes andere Mitglied des Europarats rechtlich bindend, Druckmittel zur Umsetzung gibt es aber kaum. So hatte sich die Justiz des AKP-Regimes über das Urteil zur Freilassung des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş hinweggesetzt. Auch der türkische Bürgerrechtler und Kulturmäzen Osman Kavala bleibt trotz gegenteiliger Forderung des EGMR im Gefängnis.

Rachsucht gegen HDP

Von den 65 HDP-Bürgermeister*innen, die am 31. März 2019 gewählt wurden, sind inzwischen 31 ihres Amtes enthoben und durch Zwangsverwalter ersetzt worden. Gegen 27 von ihnen ist Haftbefehl ergangen, 24 Bürgermeister*innen sitzen nach wie vor im Gefängnis. In sechs Kommunen hatten die gewählten Bürgermeister*innen ihr Amt gar nicht erst antreten können, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden die bei der Wahl unterlegenen AKP-Kandidaten ins Amt gehievt.

Die HDP charakterisiert die Einsetzung von Zwangsverwaltern als „den schrittweisen Aufbau eines Regimes, in dem Mandatsträger nicht mehr gewählt, sondern ernannt werden.“ Damit werde der Willen der Bevölkerung missachtet und unterdrückt sowie das passive und aktive Wahlrecht abgeschafft. Auch die Verfassung und die von der Türkei ratifizierten internationalen Abkommen werden mit somit verletzt.

Doch damit nicht genug: die Methode der Zerstreuung scheint ein essenzielles Werkzeug der türkischen Justiz zu sein, mit rachsüchtiger Intention gegen die inhaftierten Bürgermeister*innen der HDP vorzugehen und ihnen eine Doppelbestrafung aufzuerlegen. Denn die Überführung in Gefängnisse in der Westtürkei wirkt sich vor allem auf die Angehörigen der Gefangenen aus, die damit gezwungen sind, hunderte von Kilometern zu reisen, um ihr Familienmitglied zu besuchen.

Der abgesetzte Oberbürgermeister von Amed (Diyarbakir), Adnan Selçuk Mızraklı, wurde am 26. Oktober 2019, vier Tage nach seiner Verhaftung, gemeinsam mit seinen Amtskolleginnen Keziban Yılmaz (Payas/Kayapınar) und Rojda Nazlıer (Embarê/Kocakoy) in ein Gefängnis in die 530 Kilometer entfernte Stadt Kayseri verlegt. Bei dem Transfer mussten die Politiker*innen zehn Stunden ohne Unterbrechung in einem Gefangenentransporter verbringen.

1027 Kilometer Entfernung zur Familie

Yıldız Çetin, Ko-Bürgermeisterin von Wan-Erdîş (Van-Erciş), ist aus einem Hochsicherheitsgefängnis im nordkurdischen Wan in die Mittelmeer-Region Osmaniye transferiert worden. Auf der zwölfstündigen Fahrt blieben ihre Hände auf den Rücken gefesselt. Ihre Angehörigen müssen eine Strecke von 791 Kilometern auf sich nehmen, um die Politikerin zu besuchen. Die Ko-Bürgermeisterin von Bêraqdar (auch Qereyazî, türkisch: Karayazı), Melike Göksu, wurde aus Erzîrom sogar in die 1027 Kilometer entfernte türkische Hauptstadt Ankara verlegt.

Die Ko-Bürgermeisterin der kurdischen Stadt Pirsûs (Suruç), Hatice Çevik, der im Zusammenhang mit Beiträgen in den sozialen Medien aus dem Jahr 2015 „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung” und „Terrorpropaganda” zum Vorwurf gemacht wird, war nach ihrer Verhaftung am 20. November an ein Gefängnis in der Provinzhauptstadt Riha (Urfa) überstellt worden. Mittlerweile befindet sich die Politikerin, die beim IS-Anschlag auf die Friedenskundgebung am 10. Oktober 2015 in Ankara ihre Tochter verloren hat, in einem Gefängnis im 410 Kilometer entfernten Tarsus. Ihre Amtskolleginnen Nalan Özaydın (Şemrex/Mazıdağı), Gülistan Öncü (Stewr/Savur), Mülkiye Esmez (Dêrika Çiyayê Mazî/Derik) und Nilüfer Elik Yılmaz (Qoser/Kızıltepe) wurden aus Mêrdîn (Mardin) nach Tarsus verlegt. Cihan Karaman aus der Provinz Colemêrg (Hakkari) sowie die Ko-Bürgermeister*innen von Gever (Yüksekova), İrfan Sarı und Remziye Yaşar, sind seit einiger Zeit in einem Gefängnis im 631 Kilometer entfernten Xarpêt (Elazığ) inhaftiert, um nur einige Beispiele zu nennen.

Für Menschen im Gefängnis ist die Nähe zu ihren Angehörigen nicht nur aus emotionaler Sicht essenziell; in gewisser Weise geht es auch darum, die Isolation zu durchbrechen und die politische Verbindung nach Außen zu bewahren. Mit hunderten Kilometern, die Nahestehende auf sich nehmen müssen, um die zerstreuten Gefangenen zu erreichen, wendet die türkische Justiz ein System der Doppelbestrafung an, um die Situation des Konflikts beizubehalten und ihn durch Menschenrechtsverletzungen zu schüren.