„Wer so eine Justiz hat, der braucht keine Feinde mehr“

Obwohl eine Haftentlassung kranker Gefangenen gesetzlich vorgeschrieben ist, wird sie von den türkischen Justizbehörden verweigert. Die menschenrechtspolitische Sprecherin der HDP-Fraktion spricht von einer „politischen Feindjustiz“.

Nach einer Untersuchung des Menschenrechtsvereins IHD sind in türkischen Gefängnissen derzeit 1.334 kranke Gefangene inhaftiert, von denen 458 in einem äußerst kritischen Zustand sind. In den letzten 17 Jahren sind 3.500 Gefangene in der Haft gestorben. Die Zahlen belegen, dass die Lage in den Gefängnissen dramatisch ist.

Obwohl eine Haftentlassung schwerstkranker Gefangenen gesetzlich vorgeschrieben ist, wird sie von den türkischen Justizbehörden in den meisten Fällen verweigert. Das Haftvollzugsgesetz verbaut den aus politischen Motiven inhaftierten Gefangenen ohnehin gänzlich die Chance auf Haftentlassung, heißt es doch darin: „Wenn aufgrund einer schweren Behinderung oder Krankheit das Leben des Gefangenen durch die Inhaftierung bedroht ist, kann die Haftstrafe ausgesetzt werden, soweit festgestellt wird, dass der Gefangene keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt.“ Das bedeutet, dass dieses Gesetz für erkrankte politische Gefangene, die meist nach den umstrittenen Antiterrorgesetzen verurteilt werden, keine Gültigkeit hat. Im Übrigen gelten in der Türkei selbst steinewerfende Kinder als Terroristen und werden somit als eine Gefahr für die Sicherheit gesehen. Zudem wird die Haftentlassung von kranken Gefangenen von der Beurteilung der gerichtsmedizinischen Institute abhängig gemacht wird. Die Gerichtsmediziner in der Türkei sind politisch nicht neutral, sie vertuschen Folterungen, beteiligen sich teilweise sogar daran (besonders in den 1980- und 1990er Jahren), ignorieren fachärztliche Atteste qualifizierter Krankenhäuser und verschleppen die Begutachtung von schwerkranken Gefangenen. Sie schicken Todkranke zurück ins Gefängnis und behaupten auch, dass Gefangene eine Behandlung verweigern würden.

Menschenrechtsorganisation, Anwaltskammern und die Türkische Ärztevereinigung (TTB) kritisieren diese Praxis seit Jahren und fordern einen anderen Umgang mit kranken Gefangenen. Von der Regierung wird dies allerdings ignoriert. Die politische Willkür in der Türkei kennt keine Grenzen und kalkuliert tote Gefangene bewusst ein, obwohl 2002 die Todesstrafe abgeschafft und 2004 die Folter unter Strafe gestellt wurde.

Ayşe Acar Başaran

Die menschenrechtspolitischen Sprecherin der HDP-Fraktion, Ayşe Acar Başaran, sagt, die Regierung wende gegen erkrankte Inhaftierte eine politische Feindjustiz an. Das jüngste Beispiel der politischen Willkür der AKP-Regierung sei der Fall von Emine Aslan Aydoğan, so Başaran. Die 64-jährige Gefangene, die wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ fast zwei Jahren im Gefängnis saß, verstarb Anfang Dezember nach einer Operation wegen eines Nierentumors in einem Krankenhaus in Riha (Urfa). „Wir können etliche ähnliche Fälle aufzählen. Ehemalige Vorsitzende unserer Provinzverbände, Vorstandsmitglieder und Angestellte der HDP verlieren in den Gefängnissen ihr Leben. Die Todesstrafe wurde in der Türkei zwar abgeschafft, trotzdem tötet der Staat weiter. Menschen werden so lange in Gefängnissen festgehalten, bis sie sterben”, kritisiert die Abgeordnete.

Der türkische Staat beraube kranke Gefangene faktisch ihrem Recht auf Leben und Gesundheit. Ihr Tod werde ganz bewusst einkalkuliert. „Doch solange es keinen öffentlichen Aufschrei gibt, wird sich an der Situation nichts ändern. Auf parlamentarischer Ebene führen wir einen Kampf darum, die Menschenwürde der Gefangenen zu verteidigen. Auf der Straße muss die Gesellschaft ihre Stimme erheben,” fordert Başaran.