Staatlicher Mord an Musa Anter: IHD warnt vor drohender Verjährung

Der IHD hat mit Blick auf den Prozess um den Mord an Musa Anter vor einer drohenden Verjährung gewarnt. Weil der Fall nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit behandelt wird, läuft die Frist am 30. Todestag der „kurdischen Platane“ ab.

Der Menschenrechtsverein IHD hat im Hinblick auf den Prozess um den staatlichen Mord an dem kurdischen Intellektuellen und Dichter Musa Anter vor einer drohenden Verjährung gewarnt. Das sich seit 2013 hinziehende Verfahren um die Aufklärung und Bestrafung des Mordes an Anter, Symbol für den Widerstandswillen und die Lebenskraft des kurdischen Volkes, wurde am Montag in Ankara fortgesetzt – allerdings nur zum Schein. Das Gericht demonstrierte ganz offenkundig, dass an einer Aufarbeitung in der Bestimmung von Verantwortung kein Interesse bei der türkischen Justiz besteht. In einer Atmosphäre systematischer Straflosigkeit, die mit der „Bekämpfung des kurdischen Aufstands“ zur bleiernen Zeit der neunziger Jahre im Osten des Landes verfestigt wurde und sich in der Türkei des Tayyip Erdogan immer weiter ausdehnt, ist an eine juristische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und ihren Hinterlassenschaften ohnehin nicht zu denken.

Ein Relikt aus einer anderen Zeit

Musa Anter war ein Relikt aus einer anderen Zeit. 1920 im Dorf Zivingê in Nisêbîn geboren, erlebte er zu Lebzeiten vieles, was andere nur vom Hörensagen kannten. Die Gründungsjahre der türkischen Republik, den Aufstand des Geistlichen Şêx Seîdê Pîran und den Genozid in Dersim erlebte er als Schüler, den Zweiten Weltkrieg als Student. Er war einer der Protagonisten des kurzen Frühlings der kurdischen Nationalbewegung Ende der 1950er Jahre, im „Prozess der 49“ wurde er wegen kurdischer Propaganda und Separatismus angeklagt. Hintergrund war sein Gedicht Qimil (deut. Rüsselwanze, ein Getreideschädling), das er im August 1959 in kurdischer Sprache in der Zeitschrift Ileri Yurt veröffentlicht hatte. Das Magazin mit Sitz in Amed (Diyarbakir) war seit Jahrzehnten wieder die erste Zeitschrift, die sich mit der kurdischen Frage beschäftigte. Musa Anter war der Herausgeber.


Von der kurdischen Gesellschaft wurde er Apê Mûsa - Onkel Musa - genannt, oder auf Türkisch auch Çınar, was „Platane“ bedeutet, ein mächtiger Baum mit tiefen Wurzeln und weit reichenden Ästen. Am 20. September 1992 wurde die kurdische Platane im Alter von 74 Jahren von der Konterguerilla gefällt. Anter, der damals in Istanbul lebte, war zu einem Kultur- und Kunstfestival nach Amed gereist, auf Einladung der dortigen Stadtverwaltung. Gleich nach seiner Ankunft hefteten sich Polizisten in Zivil an seine Fersen. Unter dem Vorwand, einen Konflikt zwischen zwei zerstrittenen Familien beizulegen, lockte man Anter aus seinem Hotel. Mitten auf der Straße wurde er mit fünf Schüssen aus Maschinengewehren niedergestreckt.

„Mord unbekannter Täter”

Sieben Jahre lang lag die Akte Musa Anter als „Mord unbekannter Täter” unbeachtet in den Archiven der türkischen Justiz, bis der Fall 1999 erstmals an einem Staatssicherheitsgericht (DGM, mittlerweile abgeschafft) in Amed im Rahmen eines JITEM-Verfahrens behandelt wurde, allerdings ohne nennenswerte Anforderungen an Aufklärung. JITEM ist die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist, und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.

Kaum ein Antrag der Nebenklage fand die Zustimmung des Gerichts

Weitere zehn Jahre sollten vergehen, bis die Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakir als Schwerpunktstaatsanwaltschaft für die Anter-Akte autorisiert wurde und nach vierjährigen Ermittlungen 2013 auf Grundlage der Geständnisse eines Mordbeteiligten, der im schwedischen Exil lebende Ex-JITEM-Attentäter Abdulkadir Aygan, Anklage gegen mehrere Angehörige der Konterguerilla erhob – obwohl schon im Susurluk-Untersuchungsbericht anerkannt wurde, dass der Mord an Musa Anter von staatlicher Seite aus verübt worden war. 2012, kurz vor Anklageerhebung, war mit Hamit Yıldırım ein zweiter Attentäter verhaftet worden, der nach fünf Jahren mit Verweis auf die überlange Untersuchungshaft entlassen wurde. 2015 wurde der Prozess nach Ankara verlegt, in den Folgejahren ist die Akte mit anderen JITEM-Fällen zusammengelegt worden. Seitdem setzt sich die Nebenklage für die Abtrennung des Verfahrens, die Vernehmung von Aygan und die neuerliche Verhaftung von Yılıdırm ein – doch vergeblich. In den neun Jahren seit Beginn des Prozesses um den Mord an Musa Anter fand kaum ein Antrag die Zustimmung des Gerichts. Der Wunsch nach einer Kooperation durch das türkische Justizministerium zur Einholung der Aussage Aygans in Schweden blieb bis heute ebenso unbeachtet wie die Forderung, das seit Jahren anhängige Verfahren für seine Auslieferung in die Türkei zu beschleunigen.

Prozess auf 15. September vertagt

Gestern hat das Gericht nun auch einen Antrag der Nebenklage auf Entscheidung nach Aktenlage verworfen. Rechtsanwältin Nuray Özdoğan hatte den Vorschlag mit Blick auf die drohende Verjährung eingebracht, da zuvor bereits Anträge für eine Behandlung des Falls gemäß Paragraf 77 des türkischen Strafgesetzbuches abgewiesen worden waren. Der Artikel regelt die strafrechtliche Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren Vollstreckung nicht verjährt. Dagegen tritt die Verjährung bei Straftaten, die mit lebenslanger Haft bedroht sind, nach dreißig Jahren ein. Der ÖHD befürchtet, dass das Gericht bewusst auf den Ablauf der Verjährungsfrist hinarbeitet. Die Verhandlung wurde ohne Entscheidung auf den 15. September vertagt – fünf Tage später wäre der Mord verjährt und die Verantwortlichen würden niemals zur Rechenschaft gezogen.