„Jitem-Prozess von Cizîr“ vor dem Verfassungsgericht

Mit dem als „Jitem-Prozess von Cizîr“ bekannt gewordenen Fall um die Ermordung von 21 kurdischen Zivilist:innen durch ein Todesschwadron des Oberst Cemal Temizöz muss sich demnächst der Verfassungsgerichtshof in Ankara beschäftigen.

Mit dem als „Jitem-Prozess von Cizîr“ bekannt gewordenen Fall um die Ermordung von 21 kurdischen Zivilist:innen in den neunziger Jahren durch parastaatliche Kräfte muss sich demnächst der Staatsgerichtshof in Ankara beschäftigen. Die Angehörigen mehrerer Opfer haben Verfassungsbeschwerde beim höchsten Gericht des Landes eingereicht. Dem Schritt vorausgegangen war ein umstrittener Freispruch für die Angeklagten vergangenen November in dem sich seit 2009 hingezogenen Prozess. Laut Rechtsanwalt Veysel Vesek, der die Hinterbliebenen der Opfer verteidigt, muss die Entscheidung aufgehoben werden. „Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt vor. Die Morde dürfen nicht ungesühnt bleiben.“

Zu Tausenden wurden in den achtziger und neunziger Jahren Politiker:innen, Journalist:innen, Rechtsanwält:innen, Geschäftsleute oder einfache Bauern im schmutzigen Krieg gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) entführt und ermordet. Wie viele es genau waren, weiß niemand, nur in wenigen Fällen wurden die Opfer identifiziert. Ihre Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Menschen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die Täter: Spezialeinheiten der türkischen Gendarmerie - zuständig für „Nachrichtenbeschaffung und Terrorabwehr“, kurz: Jitem.

Die Opfer von Cemal Temizöz: Ramazan Elçi, Ramazan Uykur, Abdullah Efelti, Ibrahim Adak, Mehmet Gürri Özer, Ibrahim Danış, Abdurrahman Afşar, Abdurrahman Akyol, Ihsan Arslan, Beşir Bayar, Abdurrazak Binzet, Izzet Padır, Abdullah Özdemir, Mustafa Aydın, Süleyman Gasyak, Abdulaziz Gasyak, Ömer Candoruk, Yahya Akman, Abdulhamit Düdük sowie ein ausländischer männlicher Toter und eine Frau, die nicht identifiziert werden konnte.

 

Auch in Cizîr sind etliche Menschen während dieser dunklen Periode spurlos verschwunden und zu Opfern außergerichtlicher Hinrichtungen geworden. Für mindestens 21 der dort in den Jahren zwischen 1993 und 1995 verübten Morde im Dienst des Staates sehen Menschenrechtsorganisationen eine Todesschwadron des mittlerweile pensionierten Oberst Cemal Temizöz in der Verantwortung. Der nach seiner Zeit in Cizîr zum Regimentskommandanten der Gendarmerie der Provinz Kayseri ernannte Ex-Militär war im Frühjahr 2009 verhaftet worden. Zuvor wurden bei Grabungen in einem „Todesbrunnen“ im Dorf Basîsik (Kuştepe) menschliche Knochenreste und leere Geschosshülsen gefunden. Im Rahmen der Ermittlungen kamen auch Kamil Atak (bürgerlich Atağ), Chef eines Dorfschützerclans und ehemaliger Bürgermeister von Cizîr, sein Sohn Temel Atak, sein Bruder Kukel Atak, und die Berufsoffiziere beziehungsweise Überläufer Abdülhakim Güven, Adem Yakın, Hıdır Altuğ und Burhanettin Kıyak ins Gefängnis.

Noch im selben Jahr wurde vor einem Sondergericht in Amed (Diyarbakir) der Prozess gegen Temizöz und seine Killertruppe eröffnet. Wegen mehrfachem Mord, des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung zum Zweck der Tötung von Menschen und Anstiftung zum Mord forderte die Anklage lebenslange Haft ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung. 2014 hob ein Strafgericht in Şirnex – die Sondergerichte waren inzwischen abgeschafft – die Haftbefehle gegen das Todeskommando wegen der langen Untersuchungshaft auf. Am 5. November 2015 wurden Cemal Temizöz und der Rest seiner Truppe im westtürkischen Eskişehir, wohin der Prozess „aus Sicherheitsgründen“ verlegt worden war, aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Ende 2021 hat der türkische Kassationshof dieses Urteil zugunsten des Killerkommandos bestätigt. Diese Entscheidung fiel allerdings nicht einstimmig aus. Mit Ibrahim Ilhan und Turgay Ateş sprachen sich zwei der fünf zuständigen Richter dafür aus, die Freisprüche für Temizöz und Co zu kassieren und den Fall zur Neuverhandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Beschuldigten seien zu bestrafen, weil sie „im Namen der Terrorismusbekämpfung eine illegale Organisation gegründet, Menschen ohne Rechtsgrundlage festgenommen und durch Folter getötet“ hätten. Cemal Temizöz sei „Leiter“ einer von ihm selbst als „Miliztruppe“ bezeichneten illegalen Struktur gewesen, und habe als solcher angebliche PKK-Anhänger „und all jene, die im Verdacht standen, mit ihr zu sympathisieren, mit dem Ziel die Mobilität der Terrororganisation zu erschweren, verschwinden lassen“. Erwähnt werden in der Begründung auch die damals typischen Jitem-Dienstfahrzeuge: weiße Renaults vom Typ Toros.

Dass die „scheinbare Unschuld“ der Beklagten in der Abweisung der Revision durch den Kassationshof mit dem Argument untermauert wird, die Beschwerdeführenden hätten sich „auffällig lange Zeit“ für ihren Gang vor die Justiz gelassen und erschienen daher als unglaubwürdig, sorgt bei den beiden Richtern in ungewöhnlich klaren Worten für Unverständnis. „Der Ausnahmezustand für die Region wurde erst 2002 aufgehoben“, heißt es. Und weiter: „Aufgrund des Klimas der Angst, das von der unter der Führung von Cemal Temizöz gegründeten Organisation in der Region geschaffen wurde, und um zu verhindern, dass ihnen noch Schlimmeres widerfährt, haben sich Angehörige von Opfern nicht an die Strafverfolgungsbehörden wenden können.“

Wann sich der türkische Verfassungsgerichtshof mit dem Fall beschäftigt, sei laut Rechtsanwalt Veysel Vesek schwer zu schätzen. „Was aber fest steht, ist die Tatsache, dass wir diesen Kampf so lange fortsetzen werden, bis den Ermordeten und ihren Angehörigen wenigstens ein kleines Stück Gerechtigkeit zuteilwird.“